SDG_16_Option_16_12_pdf_20231119_182413.txt

Optionen
und
Maßnahmen
Österreichs Handlungsoptionen
zur Umsetzung
der UN-Agenda 2030
für eine lebenswerte Zukunft.
UniNEtZ –
Universitäten und Nachhaltige
Entwicklungsziele
Optionen und Maßnahmen1
16_12 / Optimierung bestehender Indikatoren zur Unabhängigkeit der Justiz auf der Grundlage ihrer Setzung
durch die UNO 16_12
Target 16.3Autorin:
M.A., MAS Böning, Marietta ( Universität für Ange –
wandte Kunst Wien )
Reviewer_innen:
Dr. phil. habil. Paganini, Claudia ( LFU Innsbruck, Insti –
tut für Systematische Theologie ); Dr. Wehinger, Daniel
(LFU Innsbruck, Institut für Christliche Philosophie )Optimierung bestehender Indikatoren zur
Unabhängigkeit der Justiz auf der
Grundlage ihrer Setzung durch die UNO
2
3 16_12 .1 Ziele der Option
3 16_12.2 Hintergrund der Option
5 16_12.3 Optionenbeschreibung
6 16_12.3.1 Beschreibung der Option bzw. der zugehörigen Maßnahmen
bzw. Maßnahmenkombinationen
10 16_12.3.2 Erwartete Wirkweise
11 16_12.3.3 Bisherige Erfahrungen mit dieser Option oder ähnlichen
11 16_12.3.4 Zeithorizont der Wirksamkeit
12 16_12.3.5 Vergleich mit anderen Optionen,
mit denen das Ziel erreicht werden kann
12 16_12.3.6 Offene Fragestellungen
13 LiteraturInhalt
Optionen und Maßnahmen16_12.1 Ziele der Option
Option 12 von Target 16.3 beschäftigt sich mit den
seitens der UNO zur Verfügung gestellten Indikatoren, die den straf- und zivilrecht –
lichen Zugang zur Justiz als für Opfer zugängliches Organ erfassen sollen sowie
mit dem Anteil der nicht verurteilten Gefangenen an der gesamten Gefängnispopu –
lation, unter denen sich auch zu Unrecht inhaftierte Personen befinden. Anders for –
muliert beschäftigt sich 16.3 mit einer strukturellen Gewalt, gegen die im Moment
der Inhaftierung nicht viel unternommen werden kann, weil der Prozess im Gange
ist. Es geht um Macht der und Ohnmacht vor der Justiz sowie um die Ermächti –
gung des Subjekts, seine Rechte wahrzunehmen.
Ziel ist es, die UNO -Indikatoren 16.3.1, 16.3.2 und
16.3.3 auf Österreich zu beziehen und zu erörtern, wie sie erweitert werden kön –
nen, um nationale Spezifika (Normen, Gesetze, Vorfälle) gesondert aufgreifen und
befragen zu können:
−Werden die drei Indikatoren von der Statistik Austria verwendet, und wenn ja:
werden sie übernommen oder verändert?
−Fördert die Auseinandersetzung mit den UNO -Indikatoren neue Frage –
stellungen zutage, die für die österreichische Situation weitere Erhebungen
bedeuten?
−Welche strukturellen Zwänge in Österreich geben Grund für eine vertiefte
Auseinandersetzung mit SDG 16.3 und die Entwicklung qualitativer Indikato –
ren?
16_12.2 Hintergrund der Option
Österreich zählt zu jenen 125 Ländern der Vereinten
Nationen , in denen rechtsverbindliche Vorschriften und Verfahren sowie das Recht
auf Zugang zu amtlichen Informationen durchgesetzt, angewandt und respektiert
werden. Inwiefern im Einzelnen aber Verbesserungsbedarf wie -potenzial bei Auf –
rechterhaltung und Kontrolle rechtsstaatlicher Prinzipien besteht, lässt sich mit
Datenmessungen nur partiell bewerten. Die Überprüfung rechtsstaatlicher Prinzi –
pien bedarf auch qualitativer Maßstäbe. Denn ihre Einhaltung fußt auf Parteipolitik,
politischer Prioritätensetzung und gesellschaftlichem Diskurs (siehe Option 11 zu
SDG 16.3).
Bei der Identifikation von Indikatoren sollen laut UNO-
Vorgabe nationale und regionale Spezifika der Staaten miteinbezogen werden,
insofern sie durch globale Indikatoren nicht abgefragt werden können, aber globale
von nationalen Indikatoren gegebenenfalls profitieren können (United Nations –
Economic Commission for Europe, 2017, S. 20-22). Diese Aufgabe sollte die Politik
nicht den NSOs allein übertragen.
Die österreichische Bundesregierung beauftragte die
zuständigen Ministerien mit der Einarbeitung der Ziele der Agenda 2030 in ihre
Programme und Maßnahmensetzungen und der Einbeziehung von Partnern auf
Bundes-, Landes-, Städte- und Gemeindeebene sowie von Sozialpartnern, Zivil –
gesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft. Dieses Modell der Zusammenarbeit
schlägt sich bislang nicht in einer Überarbeitung der Indikatoren für 16.3 nieder.
Die Arbeit an Target 16.3 liegt primär bei der Statistik Austria (Bundeskanzler –
amt Österreich, 2017, S. 7). Die jüngsten Ergebnisse der Statistik Austria von
März 2020 beruhen auf dem auf der CES (Conference of European Statisticians) –
Grundlage „ Road Map on Statistics for Sustainable Development Goals“ erstellten
3
16_12 / Optimierung bestehender Indikatoren zur Unabhängigkeit der Justiz auf der Grundlage ihrer Setzung
durch die UNO nationalen Indikatorenset nach den Kriterien Relevanz, Datenverfügbarkeit oder
internationale Vergleichbarkeit (Statistik Austria, 2020, S. 11). Sie werden aller –
dings nicht näher erläutert. Was zu messen für ein Land von Relevanz sein kann,
muss für ein anderes nicht zwingend relevant sein. Es stellt sich also die Frage,
wie Relevanz bei der Auswahl von Indikatoren definiert werden sollte. Internationa –
le Vergleichbarkeit ist eine wünschenswerte Eigenschaft eines Indikators, aber ist
sie auch eine vorab wichtige? Sollte der nationale Bezug nicht wichtiger sein, sollte
die Reihenfolge nicht so lauten:
1. Problemanalyse;
2. Formulierung eines Indikators;
3. empirische Untersuchung (falls Datenquellen fehlen);
4. falls der Indikator neu ist: Zur-Verfügung-Stellen der Erwägungen und
des Indikators auf globaler Ebene für ähnliche Problemanalysen und
Überlegungen?
Für Target 16.3 bedarf es für die Erstellung von In –
dikatoren bei Problemanalysen hoher rechtswissenschaftlicher und demokratiepoli –
tischer Fachexpertise. Erst wenn entschieden wurde, welche Indikatoren maßgeb –
lich und relevant sind, wäre anzuraten, in Kooperation mit der Statistik Austria zu
überlegen, ob die für eine Messung notwendigen und validen Datenquellen vorhan –
den sind. Überdies könnten neue Statistiken und Evaluierungen beauftragt werden,
die über die Indikatoren-Vorschläge der UNO möglicherweise hinausgehen.
Den beiden genannten Aspekten – der potenziellen
Einbeziehung sowohl qualitativer als auch nationaler Indikatoren – wird bei Target
16.3 in Österreich nicht Rechnung getragen. Die Road Map wurde als Leitfaden
für die nationalen Statistikämter von der UNECE Steering Group on Statistics
for SDGs 2017 erstellt und ist als Hilfe für die Entwicklung von Statistiken zu den
SDGs gedacht. Für das Monitoring der Targets wurde auf UN -Ebene ein Set von
Indikatoren festgelegt (Resolution am 7. Juli 2017). Target 16.3 wird von der Sta –
tistik Austria noch kaum behandelt, bis dato wurde nur einer von drei quantitativen
Indikatoren erhoben (Statistika Austria, 2020). Auch um die bereits gegebenen
Indikatoren 16.3.1, 16.3.2 und 16.3.3 in Österreich zu ermitteln, wäre die Validität
der kontextualisierten nationalen Datenquellen ausschlaggebend für ein aussage –
kräftiges Ergebnis.
Erster Indikator
16.3.1: Proportion of victims of violence in the previous
12 months who reported their victimization to competent authorities or other offici –
ally recognized conflict resolution mechanisms
Der Indikator beruht auf drei Erhebungen, während ein
methodischer Leitfaden derzeit weiterentwickelt wird:
−Police reporting rate for physical assault, by sex (%);
−police reporting rate for robbery, by sex (%);
−police reporting rate for sexual assault, by sex (%).
Relevanz: Für innere Sicherheit zuständige Behörden
aufzusuchen, bedeutet den ersten Schritt zu setzen, um Gerechtigkeit zu erlangen.
Dieses Verhalten setzt das Vertrauen in die Behörden und die Polizei voraus (Uni –
ted Nations Office on Drugs and Crime, 2016a, S. 1). Empfohlen werden seitens
UNO Disaggregationen für Geschlecht, Art des Verbrechens, Ethnizität (in den
oben genannten Meldequoten der Polizei nicht inkludiert), Migrationshintergrund
(in den oben genannten Meldequoten der Polizei nicht inkludiert) und Nationalität
(in den oben genannten Meldequoten der Polizei nicht inkludiert). In Österreich
wird Indikator 16.3.1 derzeit nicht erhoben (United Nations, o. J.).
4
Optionen und MaßnahmenZweiter Indikator
16.3.2: Unsentenced detainees as a proportion of
overall prison population
Dieser Indikator gibt mit Aufschluss über die Effek –
tivität des Justizsystems. Seine Relevanz liegt in der Achtung des Grundsatzes,
Personen, die auf ein Gerichtsverfahren warten, nicht unnötig und unzureichend
begründet zu inhaftieren, solange ihre Schuld nicht erwiesen ist. Ein effektiver Um –
gang zielt auf Gerechtigkeit und kommt der Ressourcenschonung des Justizsys –
tems zugute (United Nations Office on Drugs and Crime, 2016b). Der Jahresmittel –
wert für Österreich für 2019 liegt bei hohen 21,7 % und blieb in den letzten zehn
Jahren relativ konstant bei einem leichten Zuwachs von 1,4 % in den Jahren 2018
und 2019 (Statistik Austria, 2020, S. 159). Der Wert ist auch global gleichbleibend
und liegt im Durchschnitt bei noch höheren 30 %.
Dritter Indikator
16.3.3: Proportion of the population who have expe –
rienced a dispute in the past two years and who accessed a formal or informal
dispute resolution mechanism, by type of mechanism
16.3.3 misst, ob Menschen mit zivilrechtlichen Proble –
men Rechtsberatung, Rechtsbeistand oder Rechtsvertretung erfahren haben. Der
Indikator wird im Global Indicator Framework der UNO für die Jahre 2018–2020
(United Nations (UN), 2020) genannt, fehlt aber noch in der Database , in der die
globalen Daten zusammengetragen werden und die auch der Vorbereitung des
jährlichen UNO -Progress-Reports dient. 16.3.3 gibt, Disaggregationen vorausge –
setzt, Aufschluss über die Menschen, die das Justizsystem nutzen bzw. nicht nut –
zen. Wie 16.3.1 dient auch dieser Indikator der Vertrauensmessung (World Justice
Project, o. J.). Ungleich 16.3.1 und 16.3.2 bezieht er sich nicht auf das Strafrecht,
sondern das Zivilrecht. Die Frage, wer es in Anspruch nimmt, ist insbesondere
in sozialer und nationaler Hinsicht relevant. Asylwerber_innen und einkommens –
schwache Personen sind hier besonders gefährdet. Mit dem Indikator wird beab –
sichtigt, eine Bewertung des Bedarfs an öffentlicher Justiz vorzunehmen, denn er
zielt auch darauf, herauszufinden, welche Bedarfe nicht erfüllt werden.
16_12.3 Optionenbeschreibung
2019 wies die UNO Österreich auf Mängel in der Be –
achtung der Menschenrechte hin, vor allem im Bereich des Asylschutzes. Öster –
reich verfüge im Großen und Ganzen über ein rechtliches Schutzsystem für Mig –
ranten_innen, doch wird dieses nicht immer kohärent umgesetzt. Angesprochen
werden vor allem schnelle Abschiebungen und Ausbildungsmängel bei Asylwerber_
innen sowie ein fehlender systematischer Anspruch auf Rechtshilfe in Asyl- und
Fremdenrechtsfragen. Auch hätten Einsprüche nicht systematisch aufschiebende
Wirkung. Zudem verletzt es internationales Menschenrecht, Kinder über 14 Jahren
abzuschieben. Auch die von der Regierung geplante Sicherungshaft als Präven –
tivhaft ist unter menschenrechtlichen Gesichtspunkten zu bewerten, zumal 2018
die Schubhaft für gefährdende Asylwerber_innen ausgeweitet wurde. Und auch in
Fragen der Sicherungshaft ist abzuwägen. Generell ist festzustellen, dass Öster –
reich bei der Einhaltung der Menschenrechte Artikel 6, 10 und 14 im europäischen
Vergleich (47 gemessene Staaten) nicht sehr gut abschneidet: Bemessen an der
Einwohner_innenzahl (pro Mio. Einwohner_innen) verletzt Österreich Art. 10, das
Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung , etwa doppelt so oft wie der Durch –
schnitt Europas und steht damit gemeinsam mit der Türkei an der Spitze; Art. 14,
5
16_12 / Optimierung bestehender Indikatoren zur Unabhängigkeit der Justiz auf der Grundlage ihrer Setzung
durch die UNO das Diskriminierungsverbot , etwa viermal so oft wie der Durchschnitt Europas und
ist hier Spitzenreiter in Europa; und bezüglich Art. 6, des Rechts auf ein faires Ver –
fahren, befindet sich Österreich als Land, welches das Recht auf ein faires Verfah –
ren unterminiert, mit an dritter Stelle. Nach Kroatien und Rumänien sind Griechen –
land und die Ukraine die Länder mit etwa gleich vielen Verletzungen (13), knapp
danach folgen, mit etwa gleich vielen Verletzungen (11), die Türkei und Österreich.
Auch was die Länge von Verfahren betrifft, bewegt sich Österreich an Europas
Spitze. In sieben Ländern wurden Verfahren länger hingezogen als in Österreich.
Neben Portugal, das knapp vor Österreich liegt, gab es signifikant viele Fälle, in
denen Verfahren noch länger dauerten, in Slowenien, Griechenland, der Slowakei,
Ungarn, Bulgarien und Italien.1
Die drei UNO -Indikatoren für Target 16.3 zielen auf
die gravierendsten dieser Menschenrechtsprobleme, nämlich auf die Fähigkeit der
Menschen, ihre Rechte zu verteidigen, durchzusetzen und eine gerechte Lösung
für einklagbare Probleme unter Einhaltung der Menschenrechtsgesetze zu erzielen.
16_12 .3.1 Beschreibung der Option
bzw. der zugehörigen Maßnahmen
bzw. Maßnahmenkombinationen
Erster Indikator
16.3.1: Proportion of victims of violence in the previous
12 months who reported their victimization to competent authorities or other offici –
ally recognized conflict resolution mechanisms
40 von 123 Ländern der UNO , für die Daten vorliegen,
verfügen über keine adäquaten Bestimmungen bezüglich des Rechts, bei einem
administrativen Organ des jeweiligen Landes Beschwerde einzulegen (Vereinte
Nationen (UN), 2019, S. 55). Eine Erhebung – welche in diesem Optionenbericht
für Österreich empfohlen wird, wenn Österreich auch freilich nicht zu jenen 40 Län –
dern gehört − sollte idealerweise allen empfohlenen Disaggregationen Rechnung
tragen, also nicht nur zwischen Körperverletzung, Raub, sexuellen Übergriffen und
Geschlecht differenzieren, sondern auch zwischen den Opfergruppen nach Ethni –
zität, Migrationshintergrund und Nationalität (zusammen mit Geschlecht), weil es
für die Etablierung von Präventionsmaßnahmen relevant ist, welche Personen von
welchen Personen geschädigt werden. Wer wird zum Opfer? Hinzugefügt werden
könnte auch der Faktor Alter. Was in der UNO -Empfehlung des Weiteren fehlt, sind
religiös/weltanschaulich und politisch motivierte, also terroristische Taten. Disag –
gregiert werden könnten:
−Migrationshintergrund;
−Ethnizität;
−Nationalität;
−Geschlecht;
−Alter.
Diese könnten in Bezug gesetzt werden zur Art des Verbrechens:
−Körperverletzung;
−Raubüberfall;
−sexueller Übergriff;
−Terrorismus.
61 Berechnung: Marietta Böning auf der Datenbasis für Menschenrechtsverstöße des European Court
of Human Rights und öffentlich verfügbaren Einwohnerzahlen der Länder (European Court of Human
Rights, o. J.).
Optionen und MaßnahmenDiese optionalen Möglichkeiten einer quantitativen Be –
fragung sagen aber nichts darüber aus, weshalb Opfer sich gegebenenfalls davor
scheuen, strafrechtlich vorzugehen. Eine Umfrage könnte durch qualitative, aber
auch quantitative Fragen ergänzt werden, die diese Lücken schließen (auch hier
disaggregiert) und mögliche Gründe vorgeben, die im Hintergrund von Ängsten
stehen: Angst vor persönlicher Rache, Angst vor finanziellem Schaden, Angst vor
(Spielarten) der institutionellen Gewalt2 etc. Ziel könnte sein zu erforschen, was
speziell im österreichischen Rechtsstaat dazu motiviert, sein Recht einzufordern
und was nicht und was in unserer Gesellschaft dazu motiviert, sein Recht einzufor –
dern und was nicht.
Auch könnte mit einer solchen Umfrage analysiert
werden, wie bekannt die Volksanwaltschaft bei den disaggregierten Gruppen ist,
wer sie in Anspruch genommen hat und wer sich vorstellen könnte, dies zu tun – in
Zusammenhang mit Spielarten struktureller, institutioneller Gewalt. Auch hier wäre
es von Relevanz zu erfahren, weshalb jemand sich davor scheuen würde, sie in
Anspruch zu nehmen.
Zweiter Indikator
16.3.2: Unsentenced detainees as a proportion of
overall prison population
Wenn jahrelang ca. 21 % der Inhaftierten in Öster –
reichs Gefängnissen (noch) nicht schuldig gesprochen sind, dann verursacht dies
auch ein Quantum an zu Unrecht inhaftierten Personen. Dieses Vorgehen stellt
eine Verletzung des Gleichheitssatzes (Art. 1 der Menschenrechtscharta sowie Art.
7 des österreichischen Bundes-Verfassungsgesetzes) dar, sowie eine Verletzung
des Rechts auf Freiheit (Art. 5 der Europäischen Menschenrechtskonvention),
verursacht viel Leid3 und außerdem hohe Kosten (siehe den Optionenbericht zu
Target 16.3.1). Übergeordnetes Ziel könnte sein, die Dauer der Inhaftierungen ohne
Urteilsspruch zu senken. Dadurch würde sich die Quote automatisch reduzieren.
Da das Justizministerium 2020 finanziell weitaus besser ausgestattet ist als in den
Vorjahren und ein guter Teil der Mittel in den Strafvollzug fließen, besteht die Aus –
sicht auf eine rasche positive Wirkung.
Weitere Maßnahmenvorschläge, passend zum Indikator
−Von Relevanz wäre, zu erfahren, ob es auch andere systeminhärente Gründe
als die finanziellen Engpässe gibt. Solche Gründe treffsicher und lösungsorien –
tiert zu analysieren, zu benennen und in das Indikatoren-Framework für Target
16.3 zu integrieren, wäre am ehesten Aufgabe des Justizministeriums.
−Von der Gesamtheit der Inhaftierten wäre es relevant, auch den jeweiligen Anteil
der unterschiedlichen Nationalitäten zu erfahren – dies vor allem vor dem Hinter –
grund einer angedachten Sicherungshaft. Auch eine Untersuchung der Korrela –
tion zwischen Nationalität, Grund des Einsitzens und Dauer des Einsitzens
wäre sinnvoll. Wie auch immer die Ergebnisse ausfallen würden: Solche Inhaf –
tierungsmaßnahmen sind nicht mit dem Menschenrecht auf Leben, Freiheit und
Sicherheit (Vereinte Nationen (UN), 1948, Art. 3) vereinbar, deren „ Gate “ Target
16.3 ist.4
72 Beispielhafte Beanstandungen seitens der Volksanwaltschaft in den letzten Jahren, die in Bezug zu
Indikator 16.3.1 stehen: Mangel an Heimopferrente, menschenunwürdige Verhältnisse in Strafanstalten,
menschenunwürdiges Verhalten bei der Exekutive.
3 Zu menschenunwürdigen Zuständen in den Gefängnissen siehe Volksanwaltschaft (2019, S. 43-44) .
4 Siehe Bast (2019, S. 140) zum Wertewandel u.a. im Zusammenhang mit der Frage nach Sicherungs –
haft. Wertewandel wird hier behindert: „Wertewandel passiert nicht. Wertewandel wird produziert, be –
hindert oder verzögert.“
16_12 / Optimierung bestehender Indikatoren zur Unabhängigkeit der Justiz auf der Grundlage ihrer Setzung
durch die UNO −Tatsächliche Anzahl der Personen, die einsitzen mussten und die nach
dem Verfahren freigesprochen wurden : Um retrospektiv alle Menschenrechts –
verletzungen erkennen zu können, könnte nach den Urteilsverkündungen eruiert
werden, wie viele – und disaggregiert, welche – Personen vorher verhaftet
wurden. Sinnvoll zu eruieren wären auch jährliche prozentuale Vergleichszahlen
und Korrelationen zur Länge des Einsitzens mit dem Ziel, Anzahl und Zeitspanne
durch schnellere Verfahren kosteneffizienter und leidmindernd zu reduzieren.
−Zum Thema Sicherungshaft : Auch wenn das Vorhaben der ehemaligen ÖVP-
FPÖ-Regierung aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht umsetzbar erscheint5,
hielt Bundeskanzler Sebastian Kurz im Rahmen einer Pressekonferenz zum Start
des 5G-Mobilfunknetzes von A1 im Jänner 2020 noch an der Sicherungshaft fest,
mit der Begründung, ein Maximum an Sicherheit bieten zu wollen.6 Betroffen
wären Personen, die bereits ein Gewaltverbrechen begangen haben und eine
Drohung aussprechen. Der Bundeskanzler und der ehemalige Innenminister
Kickl vermuten eine Gesetzeslücke, die durch eine Gesetzesänderung geschlos –
sen werden sollte (damit wäre der Aussage des ehemaligen Innenministers, das
Recht habe der Politik zu folgen, genüge getan). Allerdings erlaubt bereits die
Fremdenrechtsnovelle 2018 (die konform ist mit der EU -Aufnahmerichtlinie, Art.
8 Abs. 3 lit. e, der besagt, dass Asylwerber_innen in Haft genommen werden
dürfen, wenn dies aus Gründen der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen
Ordnung erforderlich ist und Fluchtgefahr vorliegt) Schubhaft für gefährdende
Asylwerber_innen während des Asylverfahrens. Eine Sicherungshaft wäre eine
noch weit umfassendere Maßnahme, gegen die Art. 5 zum Schutze der Men –
schenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) und das BV-G über den Schutz der
persönlichen Freiheit sprechen. Das Thema Sicherungshaft wirft einen tiefge –
henden rechtsethischen Diskurs auf. Er belegt, wie wenig selbstverständlich es
für Politiker_innen sein kann, die Menschenrechtskonvention als obersten rechts –
wirksamen Normenkatalog zu betrachten. Die Debatte zur Sicherungshaft belegt
eine politische Unklarheit über die Kompetenzen im Zwischenbereich von Le –
gislative und Judikative. Siehe dazu die Ausführungen zu Option 11, Target 16.3.
Solche Grauzonen sollten im Rahmen von Target 16.3 aufgearbeitet werden. Im
Kontext von Indikator 16.3.3 ist dabei die besondere disziplinarische Tragweite
von Interesse: Strukturelle Macht umfasst den_die Einzelne_n (Staatsbürger_in
oder auch nicht Staatsbürger_in) für eine Potenzialität im Handeln; für etwas
(noch) nicht Vorhandenes (die mutmaßliche Straftat); für eine Unklarheit.
−Ein rechtswissenschaftlicher Diskurs über die Verortung des Gleichheitssatzes
im BV-G ist anzustreben, solange er im Staatsgrundgesetz noch von 1867 nur
als Staatsbürgerrecht verankert und somit nicht vollständig menschenrechtskon –
form ist.7 Es ist von großer Relevanz, auch diese rechtsphilosophischen Fragen
in das SDG-Framework aufzunehmen und zu diskutieren, welche gesetzlichen
Normen, Vorrichtungen und Anwendungen in all ihrer Widersprüchlichkeit Usus
sind (in Österreich: einerseits Menschenrecht, andererseits an die Staatsbürger –
schaft gebunden).
85 Die Opposition (Neos) ließ ein juristisches Gutachten herstellen, auch der Diskurs in den Medien zeigt
diese Tendenz.
6 „Es gibt Bedürfnisse ohne Rechtsentsprechungen; sie stehen hinter der Idee, dass das Konzept der
Menschenrechte einer Erweiterung bedürfen könnte. Es gibt Rechte, die keine Bedürfnisentsprechungen
besitzen; sie sind mit der Idee verknüpft, dass die Entwicklung der Menschenrechte auf gewissen kultu –
rellen und klassenbezogenen Vorteilen beruht.“ (Galtung, 1994, S. 111)
Optionen und MaßnahmenDritter Indikator
16.3.3: Proportion of the population who have expe –
rienced a dispute in the past two years and who accessed a formal or informal
dispute resolution mechanism, by type of mechanism
Indikator 16.3.3 zielt auf eine ganze Reihe von Fragen
und Problemen: 1. auf den Zugang zu angemessenen Informationen , 2. den
Zugang zu Justizdiensten und Rechtsberatung sowie den Zugang zu Justiz –
institutionen , die eine faire und unparteiische Behandlung gewährleisten. Er soll
3. auch Informationen über die allgemeine Zugänglichkeit von Einrichtungen
und Verfahren der Ziviljustiz sowie 4. über die Hindernisse und Gründe für
die Ausgrenzung bestimmter Personen/gruppen liefern. Die Art des Streitbeile –
gungsmechanismus soll 5. zusätzliche Informationen über die von Bürger_innen
nutzbaren Kanäle liefern. Auch soll dieser Indikator 6. der Überwachung öffent –
licher Politiken dienen, die auf die Verbesserung der Funktionsweise formeller
oder informeller Streitbeilegungsmechanismen abzielen ( Top-down -Politiken),
sowie 7. solcher, die auf die Befähigung der Bevölkerung abzielen ( Bottom-up –
Politiken). Bei den Punkten 6 und 7 handelt es sich wohl um Empfehlungen zur
qualitativ wertvollen Evaluation und weniger um Erhebungsmaßnahmen. Auch für
Indikator 16.3.3 empfiehlt die UNO eine demografische Disaggregation (Alter, Ge –
schlecht, Migrationshintergrund, Einkommen), damit besonders gefährdete Grup –
pen identifiziert werden können.8 Es wird in diesem Optionenbericht angeregt, in
der Gestaltung der Umfragen zu 16.3.3 die fünf Kriterien und die Disaggregationen
bei der Indikatorenentwicklung zu berücksichtigen und bei einer späteren Evalu –
ierung unter Zuhilfenahme juristischer/rechtswissenschaftlicher Fachexpertise die
Punkte 6 und 7 bestenfalls ebenfalls zu berücksichtigen – sie besagen etwas über
die Aufklärungsmechanismen der Gesellschaft.
Weitere Maßnahmen
Für die Erreichung von Target 16.3.3 sei im vorliegen –
den Optionenbericht für Österreich außerdem angeregt:
−auch den Asylstatus zu disaggregieren;
−auch die Empfehlungen der Organisation World Justice Project zu beachten und
in die Umfrage die Faktoren einzubeziehen: Ziviljustiz muss frei von Diskrimi –
97 Ein „ sozialer Gestaltungsauftrag “ sei dem Gleichheitssatz daher nicht zu entnehmen, so Pöschl (2008,
S. 529): „Der Gleichheitssatz unterliegt der Staatszielbestimmung, auf deren Einhaltung der Einzelne kein
subjektives Recht hat.“ Art. 7 Abs. 1 Satz 1 B-VG zeige aber, dass die Garantie der Gleichheit vor dem
Gesetz immer als subjektives Recht konzipiert war. Rawls (2019 [1979], S. 85) fordert für den Gleich –
heitssatz zwei Grundsätze. Neben dem ersten, dass die Regeln, welche die Grundfreiheiten festlegen,
gleichermaßen auf alle zuzutreffen haben, folgt der hier interessante zweite, „ dass von unzulässigen
Ungleichheiten in der Grundstruktur jedermann Vorteile haben muss. Das bedeutet: Für alle durch diese
Struktur definierten betroffenen repräsentativen Personen muss es, dynamisch betrachtet, vernünftig
sein, die Aussichten unter der Ungleichheit denen ohne sie vorzuziehen “, was, wie Rawls betont, frei –
lich bei Freiheitsbeschränkungen am wenigsten geht. Der Vergleich des Bedürfnisses nach maximalem
Sicherheitsschutz potenzieller Opfer vor einem potenziellen Verbrechen steht den Bedürfnissen nach
subjektiver Freiheit, nach Gleichbehandlung und menschenwürdiger Behandlung und keiner Vorverurtei –
lung realer Menschen gegenüber. Dieser Begriff von Sicherheit kommt dem gleich, was Maus (2017, S.
339) als „ verselbständigtes Grundrecht “ bezeichnet : „[Der Rückgriff der Exekutive auf verselbständigte
Grundrechte bildet] den Ersatz für demokratische Legitimationsbeschaffung. Die Politik des paternalisti –
schen Sozialstaats, des Sicherheits- und Präventionsstaates kann umso leichter auf Konsensermittlung
verzichten, als sie sich als effiziente Verwirklichung von Grundrechten versteht.“ Der wissenschaftliche
Dienst des deutschen Bundestags stellt 2008 in seiner Ausarbeitung „ Zum ‚Grundrecht auf Sicherheit‘ “
fest, „dass es die Grundrechte entindividualisiere[n würde], die Freiheitsrechte in ihr Gegenteil verkeh –
re[n würde] und im Übrigen die Sicherheit des Einzelnen insbesondere durch die Grundrechte betreffend
Leben, Gesundheit und Freiheit ausreichend geschützt sei. Sicherheit sei kein Grundrecht, sondern eine
Staatsaufgabe.“ (Deutscher Bundestag – Wissenschaftliche Dienste, 2008, S. 2)
8 Siehe die weiteren Ausführungen: United Nations Development Programme (UNDP), United Nations
Office on Drugs and Crime (UNODC) & Organization for Economic Cooperation and Development
(OECD). (2020).
16_12 / Optimierung bestehender Indikatoren zur Unabhängigkeit der Justiz auf der Grundlage ihrer Setzung
durch die UNO nierung sein – Beispiel für eine skandalöse Diskriminierung wäre die Schubhaft,
weshalb sie unten als eigener Punkt genannt wird;
−Schubhaft : Bei der Schubhaft handelt es sich um einen besonders auffälligen
Fall einer Verdrehung straf- und zivilrechtlicher Angelegenheiten. Schubhaft
betrifft Menschen, die wie Straftäter_innen behandelt werden, ohne es zu sein.
Diese Menschen haben somit auch kaum zivilrechtliche Mittel, um sich wirksam
zur Wehr zu setzen. Und der Sachverhalt wirft auch Fragen in Zusammenhang
mit dem Recht auf faire Verfahren und Verfahren von zumutbarer Länge auf.
Die UNO kritisierten Österreich in den letzten Jahren wiederholt wegen eines
Absinkens des Einsatzes gelinderer Mittel zugunsten einer Verdreifachung von
Schubhaften. Eine Menschenrechtsexpert_innen-Einschätzung in dieser Ab –
wägungsfrage wäre sinnvoll. Vor allem könnte mit einer solchen Einschätzung
erörtert und definiert werden, wann die EU-Aufnahmerichtlinie, nämlich aus
Gründen der „nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung“, anzuwenden
ist und wann nicht. Grund ist die Verhinderung von potenziellen Willkürhandlun –
gen (die in Österreichs jüngster Vergangenheit sogar unter Gewalteinwirkung mit
Todesfolge statthatten). Notwendig scheinen außerdem systematische Prüfungen,
ob Personen in Schubhaft sind, die nicht in Schubhaft genommen werden dürfen
(Schwangere, Stillende, Folter- und Traumaopfer, Migranten mit besonderen
körperlichen und psychischen Bedürfnissen, LGBTQIA+-Personen und andere
verletzliche Personen).
−Die wesentlichen Kritikpunkte zu Schubhaft und Abschiebungen betreffen u.a.
die Anhaltebedingungen in den Polizeianhaltezentren, die medizinische Versor –
gung und den Rechtsschutz. Bei der Erstellung von Indikatoren und Statistiken
zu Target 16.3.3 könnten Asylwerber_innen gesondert aufgeführt werden, um
empirisch ermitteln zu können, wie ihre Chancen, ihre Rechte schützende Maß –
nahmen ergreifen zu können, tatsächlich stehen. In Österreich lebende Nicht-
Staatsbürger_innen genießen ein dem Gleichheitssatz ähnelndes Gleichheits –
recht, nach dem sie jedenfalls vor einem gleichheitswidrigen und willkürlichen
behördlichen Vorgehen geschützt sind.9 Problematisch würde die Anwendung
keiner Gleichheitsprinzipien, also eine Ent-Rechtung, jedenfalls bei Menschen
ohne Vergehen.10
16_12 .3.2 Erwartete Wirkungsweise
Die Wirkungsweise von Umfragen kann nur so effektiv
sein, wie Umfragen selbst klar formuliert sind und die wesentlichen Zusammen –
hänge von Problemstellungen erfassen und vermitteln, d.h. optimalerweise die den
Fragebogen beantwortenden Personen auch bilden. Werden die Themen komplex
9 Siehe Pöschl (2008, S. 532), die sich auf den Vergleich von Art. I BVG-RD und Art. 7 Abs. 1 Satz 1
BVG bezieht.
10 Siehe Hardt und Negri (2018, S. 272f.) zu einem gesellschaftlichen Transformationsprozess, den Migration
auslöst, weil Migrant_innen in ihrer Subjektivität „jede administrative und kapitalistische Logik des Maßes über –
schreiten“, während Freiheit und Subjektivität aber Produktion, Zugang zu Information und Migration kennzeich –
nen: „Die Produktion von Subjektivität lässt die Logik und die Mechanismen des Maßes hinter sich, auf denen das
Funktionieren der Verwaltung beruht.“ Einerseits wird Menschen der Subjektstatus nach den Maßstäben west –
licher Aufklärung und den Menschenrechten zuerkannt. Andererseits sind die Einschränkungen für Asylwerber
einem Verwaltungsproblem geschuldet. Die Anerkennung von Subjektivitäten verschwindet im (Staats)apparat.
Judith Butler sieht die „Ontologie des Individuums“ durch Verletzbarkeit in Frage gestellt – hinter dem Subjekt und
dem Bürger/der Bürger_in steht der Mensch – wenn sie darauf aufmerksam macht, dass ein Individualrecht bean –
spruchen zu können auch bedeuten sollte, dass eine Gemeinschaft für dessen Einlösung geradestehe – in seiner
singulären Gültigkeit. Denn das Leiden ist singulär (siehe Butler, 2009; Böning, 2019). Und um nichts anderes
als um Leidverminderung geht es ja beim Rechtsschutz. Der hinter diesen Ansätzen stehende Biopolitik-Diskurs
(siehe dazu die Schriften von Michel Foucault, 1993, und Giorgio Agamben, 2002) führt auf die Exklusion des
Menschen außerhalb seiner Ummäntelung als Bürger_in zurück und verweist auf das Problem der Souveränität.
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Optionen und Maßnahmenbehandelt und erklärt, sowie gleichzeitig nutzer_innenfreundlich formuliert, so sind
sie durchaus dazu in der Lage ein differenziertes Meinungsbild der österreichi –
schen Bevölkerung zu liefern. Auf diese Differenziertheit käme es an; insbeson –
dere auf Validität der Fragestellungen und Darstellungen von Problembezügen zu
achten, könnte sich als effektiv erweisen. Damit Meinungen repräsentativ wirken
können, sollten die Stichproben groß genug gewählt werden, sodass die Gewich –
tung verschiedener, möglichst großer Aussage-Cluster sich für objektivierbare
Schlussfolgerungen eignet. Verschiedene Aussage-Cluster würden sich nicht nur
aufgrund unterschiedlicher Meinungsbilder ergeben, sondern auch zugeordnet zu
den ausführlichen Disaggregationen. Je komplexer die Umfrage, desto komple –
xer auch die Antworten. Dies wäre wünschenswert, denn das Meinungsbild einer
Bevölkerung über ein komplexes Thema ist immer komplex, wird es nicht derart
vereinfacht, dass die Qualität der Aussagen durch Verkürzung der Auskünfte ver –
lorengeht.
16_12 .3.3 Bisherige Erfahrungen mit dieser
Option oder ähnlichen Optionen
−2019 ist eine Verwaltungsverfahrensnovelle im Strafrecht unter dem Mot –
to „Beraten statt strafen“ in Kraft getreten, die zur Stärkung starker, inklusiver
Institutionen und des Rechtsfriedens beitragen soll. Hiernach müssen Verwal –
tungsstrafbehörden bei weniger gravierenden Übertretungen unter bestimmten
Voraussetzungen zunächst beraten und belehren statt strafen.
Im Bereich Opferschutz werden auf Bundesebene wie
multilateral Verbesserungen angestrebt:
−Einführung des Gewaltschutzgesetzes 2019 im Bereich Opferschutz. Maß –
nahmen: Verständliche Darstellung der Opferrechte in der Strafprozessordnung;
Verbesserung des Schutzes vor Gewalt und des Schutzes der Privatsphäre im
Zivilrecht durch Einführung einstweiliger Verfügungen sowie Maßnahmen zur
Stärkung von Schadensansprüchen aus Straftaten gegenüber Minderjährigen;
−Rechte von Terrorismus-Opfern. Die 5. Konferenz der Weltorganisation der
nationalen Parlamente (Inter-Parlimentary Union – IPU) in Zusammenarbeit mit
der UNO wurde im August 2020 in Wien abgehalten, dabei erstmals mit einem
Nationalstaat als Veranstalter. Ihr generelles Ziel ist die Stärkung der parlamen –
tarischen Dimension im Rahmen der Global Governance . Eines der Panel-The –
men der aufgrund der Corona-Krise virtuell abgehaltenen Konferenz lautete:
„Countering terrorism and violent extremism: The perspective of victims “. Konkret
ging es um die Schaffung von Maßnahmen zum Schutz der Rechte der Opfer,
um ihre Rehabilitation und Wiedereingliederung in die Gesellschaft;
−2019 fand in Wien die OSZE -Konferenz „ United against torture “ statt. Diskutiert
wurden präventive Maßnahmen im Kampf gegen Folter, der Schutz der Integrität
des Menschen und das Problem der weitgehenden Straflosigkeit von Folternden,
speziell, wenn es um die Erpressung von Geständnissen geht.
16_12 .3.4 Zeithorizont der Wirksamkeit
Die Option mit ihren Maßnahmen kann für die drei
Indikatoren 16.3.1, 16.3.2 und 16.3.3 frühestens mittelfristig ab 2023 wirken, falls
2021 ein komplexes Konzept mit Indikatorenentwicklung erstellt wird und die Sta –
tistik Austria mit Erhebungen für 2022 beginnen kann.
11
16_12 / Optimierung bestehender Indikatoren zur Unabhängigkeit der Justiz auf der Grundlage ihrer Setzung
durch die UNO 16_12.3.5 Vergleich mit anderen Optionen,
mit denen das Ziel erreicht werden kann
Entwicklung valider Indikatoren zur Unabhängigkeit
der Justiz auf der Grundlage von EU -Empfehlungen
[Target 16.3 – Option 11]
Die Optionen 11 und 12 von Target 16.3 überschneiden
sich in wenigen Punkten, insofern sie ähnliche Ziele verfolgen. Option 11 unter –
sucht die Empfehlungen der EU für die Optimierung von Indikatoren – das betrifft
neue Indikatoren; Option 12 baut auf den drei Indikatoren der UNO für Target 16.3
auf. Zwar unterscheiden sich die Indikatoren(empfehlungen), jedoch sind spezi –
fisch österreichische Mängel oft auf das unterbudgetierte Justizministerium zurück –
zuführen oder auf strukturelle Mängel (beide Option 11), die sich dann in konkreten
Missständen auswirken, welche menschenrechtlich fragwürdig sind und in Option
12 konkret thematisiert werden.
16_12.3.6 Offene Fragestellungen
−Zur rechtsethischen Frage der Aktualisierung der Gültigkeit des im Staatsgrund –
gesetz von 1867 verorteten Gleichheitssatzes, der derzeit auf Staatsbürger_in –
nen anwendbar ist, nicht aber auf alle anderen Einwohner_innen Österreichs.
Der Gleichheitssatz soll für Gleichheit sorgen, dies aber als ausdrücklich un –
gleich gesetzte Norm. Vor Anwendung gemäß seiner Funktion macht seine Set –
zung per se eine rigorose Ungleichheit auf. Es handelt sich um die Problematik
der Entrechtung in einem Land, das die Europäische Menschenrechtskonvention
ratifiziert hat;
−zur rechtsethischen Problematik der Gewährleistung des Schutzes der persön –
lichen Freiheit im Rahmen einer möglichen Sicherungshaft. Es handelt sich um
die Problematik der Entrechtung in einem Land, das die Europäische Menschen –
rechtskonvention ratifiziert hat;
−zur rechtsethischen Problematik, Schubhäftlinge wie Straftäter_innen zu behan –
deln, ohne dass sie es sind. Es handelt sich um die Problematik der Entrechtung
in einem Land, das die Europäische Menschenrechtskonvention ratifiziert hat.
12
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