SDG_16_Option_16_11_pdf_20231119_182413.txt

Optionen
und
Maßnahmen
Österreichs Handlungsoptionen
zur Umsetzung
der UN-Agenda 2030
für eine lebenswerte Zukunft.
UniNEtZ –
Universitäten und Nachhaltige
Entwicklungsziele
Optionen und Maßnahmen1
16_11 / Entwicklung valider Indikatoren zur Unabhängigkeit der Justiz auf der Grundlage von EU-
Empfehlungen 16_11
Target 16.3Autorin:
Böning, Marietta M.A., MAS ( Universität für Ange –
wandte Kunst Wien )
Reviewer:
Guggenberger, Wilhelm Ao. Univ. Prof. Dr. ( LFU Inns –
bruck, Institut für Systematische Theologie ); Wehin –
ger, Daniel Dr. ( LFU Innsbruck, Institut für Christliche
Philosophie )Entwicklung valider Indikatoren zur
Unabhängigkeit der Justiz auf der
Grundlage von EU-Empfehlungen
2
3 16_11 .1 Ziele der Option
3 16_11.2 Hintergrund der Option
6 16_11.3 Optionenbeschreibung
6 16_11.3.1 Beschreibung der Option bzw. der zugehörigen Maßnahmen
bzw. Maßnahmenkombinationen
11 16_11.3.2 Erwartete Wirkweise
11 16_11.3.3 Bisherige Erfahrungen mit dieser Option oder ähnlichen
12 16_11.3.4 Zeithorizont der Wirksamkeit
12 16_11.3.5 Vergleich mit anderen Optionen,
mit denen das Ziel erreicht werden kann
12 16_11.3.6 Offene Fragestellungen
13 LiteraturInhalt
Optionen und Maßnahmen16_11.1 Ziele der Option
Option 11 von Target 16.3 beschäftigt sich mit dem
Vergleich der wahrgenommenen gegenüber der tatsächlichen Unabhängigkeit des
Justizsystems sowie strukturellen Einflüssen auf Unabhängigkeit und Qualität des –
selben in Österreich, wobei Option 11 hierfür speziell Ansätze bzw. Anregungen
zur Indikatorenentwicklung seitens der EU ins Visier nimmt.
Ziel ist es, Vorabeinschätzungen auf die folgenden, an
sich äußerst komplexen Fragen geben zu können:
−Sind die Empfehlungen der EU sinnvoll, brauchbar, valide und reliabel?
−Welche Fragestellungen lassen sich speziell für Österreich aus ihnen ableiten?
−Wie lässt sich das Vertrauen der Bevölkerung in das Justizsystem messen?
−Welche strukturellen Zwänge in Österreich geben Grund für eine vertiefte Aus –
einandersetzung mit Target 16.3 und der Entwicklung qualitativer Indikatoren?
Generelles Ziel ist es, für die Schaffung eines ge-
danklichen Bezugssystems zu sensibilisieren, wie österreichische Gegebenheiten
und Vorkommisse im Justizsystem für die Entwicklung einer nachhaltigen, sozial,
rechtsstaatlich und völkerrechtlich verträglichen Gesellschaftsvision kontextuali –
siert und wie Ansatzpunkte für eine Strategieentwicklung zu dieser Vision gewon –
nen werden können. Dabei sollte auch in Betracht gezogen werden, inwiefern das
Vertrauen in die Justiz durch Beeinflussungen vonseiten der Legislative gefördert
oder getrübt werden könnte .1 Das mag kompliziert werden, da die Justiz, orientiert
sie sich an den Zukunftszielen der UNO , an die Grenzen unparteilicher Argumenta –
tion geraten könnte.2
16_11.2 Hintergrund der Option
In ihrer Resolution vom 25. September 2015 be –
schreiben die Vereinten Nationen eine Zukunft, „ in der die Menschenrechte und
die Menschenwürde, die Rechtsstaatlichkeit, die Gerechtigkeit, die Gleichheit und
die Nichtdiskriminierung allgemein, in der Rassen, ethnische Zugehörigkeit und
kulturelle Vielfalt im Besonderen geachtet werden und in der Chancengleichheit
herrscht“ (Vereinte Nationen (UN), 2015, S. 4). Sie betonen „die Verantwortung
aller Staaten im Einklang mit der Charta der Vereinten Nationen, die Menschen –
rechte und Grundfreiheiten für alle ohne irgendeinen Unterschied nach Rasse,
Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Anschauung,
nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt, Behinderung oder sonsti –
gem Status zu achten, zu schützen und zu fördern.“ (UN, 2015, S. 6-7) Unter der
Voraussetzung, diese Ziele ernst, also wörtlich zu nehmen, erstrebt die UNO ihre
Messung, der ihre Operationalisierung in Form von quantifizierbaren Indikatoren
auf zunächst nationaler Ebene vorausgeht. Target 16.3 – „ Die Rechtsstaatlich –
keit auf nationaler und internationaler Ebene fördern und den gleichberechtigten
31 Galtung (1994, S. 17) weist darauf hin, dass in dem Maße, wie das Gesetz mit dem einen Paradigma
verträglicher ist als mit dem anderen und die Paradigmen bzw. Perspektiven selbst Bestandteil einer
politischen Realität sind, die ganz bestimmte Auffassungen , Gruppen und Parteien favorisiert, aus Recht
Politik wird.
2 Eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Thema sollte neben juristischen Quellen betreffend das
Justizsystem auch Gegenwartsstudien zur Demokratie- und Governancetheorie, zu Verschränkungen
und Zusammenhängen zwischen Rechtsphilosophie, liberalem Wohlfahrtsstaat, Sozialstaat; zwischen
Rechtsstaatlichkeit, Bürger_innenschaft und Menschenrecht; zwischen Demokratieformen, Biomacht-
Diskursen und ethischen Diskursen einbeziehen. Theoretisches kontextualisierendes Hintergrundwissen
ist auch wertvoll für die Erkenntnis der Verschränkung mit Fragestellungen anderer SDGs und speziellen
Targets.
16_11 / Entwicklung valider Indikatoren zur Unabhängigkeit der Justiz auf der Grundlage von EU-
Empfehlungen Zugang aller zur Justiz gewährleisten “ – nimmt direkten Bezug auf die globalen,
dringlich zu sch ützenden Ziele der UNO . In seinen Beratungsergebnissen vom
20. Juni 2017, Punkt 9, bestätigte der Rat der Europäischen Union die Umsetzung
eines an Rechtsnormen orientierten Ansatzes, der sich auf alle Menschenrechte
erstreckt und Inklusion und Teilhabe, Nichtdiskriminierung, Gleichheit, Gerechtig –
keit, Transparenz und Rechenschaftspflicht fördert. Er forderte die EU-Kommission
auf, bis Mitte 2018 bestehende Defizite zu ermitteln, um Umsetzungsmöglichkeiten
bewerten zu können (Rat der Europäischen Union, 2017). In ihrem Bericht über
die Ziele für nachhaltige Entwicklung von 2019 müssen die Vereinten Nationen
zunächst folgendes Resümee ziehen: „Das Ziel friedlicher, gerechter und inklusiver
Gesellschaften liegt noch in weiter Ferne. In den letzten Jahren wurden bei der
Beendigung von Gewalt, der Förderung der Rechtsstaatlichkeit, der Stärkung der
Institutionen oder der Verbesserung des Zugangs zur Justiz keine tiefgreifenden
Fortschritte erzielt.“ (Vereinte Nationen (UN), 2019, S. 54)
Die EU beteiligt sich in zweierlei Hinsicht an der
Weiterentwicklung von Target 16.3 in den EU-Staaten anhand von statistischen
Studien und deren Auswertungen. Eurostat nutzt einerseits Quellen, um die sei –
tens der Bevölkerung wahrgenommene Unabhängigkeit der Justiz zu vergleichen
(a) und andererseits stößt die EU Aktionen ( EU actions ) an, um die Erreichung der
Ziele zu forcieren (b) .
Ad a): Auf EU-Ebene existiert noch kein Maßstab, um
Justizsysteme qualitativ zu bewerten, wie Eurostat im „Report on Progress towards
the SDGs in an EU Context “ (Eurostat, 2019) berichtet. Insoweit werden die quan –
titativen UNO -Indikatoren derzeit ausschließlich via „ perceived independence of
justice systems“ gemessen (Hervorhebung M.B.).
1. Statistisch erfasst wird die Entwicklung der finanziellen Ressourcen
(„General government total expenditure on law courts “, Eurostat, o. J. (a) )
der Justiz. Ausgenommen sind die Verwaltungskosten der Gefängnisse
gemäß Klassifikation der Aufgabenbereiche des Staates ( Classification
of the Functions of Government (COFOG)), bemessen am Bruttoinlands –
produkt (BIP), mit dem Ergebnis einer relativ stabil bleibenden finan –
ziellen Ausstattung und finanziellen Zuwächsen von ca. 0,3 % unterhalb
des BIP-Wachstums in den EU-28 seit 2015. Österreich befindet sich
demnach im Mittelfeld. Bemessen am BIP ist in Österreich der Anteil der
Justizausgaben seit 2011 von 0,37 auf 0,40 Prozent gestiegen. Unab –
hängig von diesem statistischen Vergleich von außen fand in den letzten
Jahren, spätestens seit Erscheinen des Wahrnehmungsberichts (2019)
des ehemaligen Bundesministers für Verfassung, Reformen, Deregu –
lierung (in der Übergangsregierung nach dem Ibiza-Skandal), Clemens
Jabloner, eine Debatte über die massiven Probleme des österreichischen
Justizsystems aufgrund von gravierenden Unterbudgetierungen statt;
wobei dieser Bericht inzwischen (2020) Berücksichtigung bei der Budget –
vergabe zeitigt.
Der SDG-Indikatorenbericht der Statistik Austria
(2020) exkludiert bis dato Untersuchungen zu Auswirkungen des unzureichenden
Justizbudgets auf die Qualität dieses Systems. Es gibt hierzu keine Indikatoren.
2. Außerdem statistisch erhoben wird eine um 4 % verbessert wahrgenom –
mene, aber seitens der EU-Bürger_innen als nicht sehr gut bewertete
Unabhängigkeit der Justiz (Eurostat, o. J. (b)). Danach schätzten 56 %
der EU-Einwohner_innen die Unabhängigkeit der Justiz in ihrem jeweili –
gen Land als „gut“ oder „sehr gut“ ein, während die Bewertung „schlecht“
4
Optionen und Maßnahmenoder „sehr schlecht“ um 3 % auf 33 % sank. Die generelle Unabhängig –
keit von Richter_innen wird als „sehr gut“ wahrgenommen, während
Grund für eine schlechte Bewertung die Beeinflussung der und Druck
durch Regierungen und Politiker_innen auf die Justiz sind.3 Die Studie
berücksichtigt die Einflussfaktoren Alter, Bildungsgrad und Anstellung/
Selbstständigkeit. Tendenziell bewerten junge, gebildete Personen und
Personen, die keine Erfahrung mit dem Justizsystem gemacht haben,
die Unabhängigkeit besser. Mit einer dritten Messung ermittelte Euro –
stat eine positive Korrelation zwischen der Höhe des Korruptionswahr –
nehmungsindex, Corruption Perceptions Index (CPI) von Transparency
International von 2019 und der Bewertung der Unabhängigkeit der Justiz.
Zusammen mit Dänemark und Finnland ist die Korrelation für Österreich
positiv. Mit 87 bzw. 86 Punkten erreichen Dänemark und Finnland die
höchsten CPI-Werte in der EU. Österreichs CPI liegt bei 77 und damit
allerdings niedriger oder gleich wie jener von acht anderen Staaten.4
Nach Dänemark mit 87 Prozentpunkten schätzen die Einwohner_innen
in Finnland und Österreich laut einer Studie von DG COMM (Directorate-
General for Communication ) 2019 mit je 83 Prozentpunkten die Unabhän –
gigkeit der Justiz in ihrem Land besser ein als die Einwohner_innen in
allen anderen EU-Staaten.5 Diese positiven Korrelationen sind signifikant.
Auch diese EU-Daten finden im Indikatorenbericht der Statistik Austria
(2020) keine Berücksichtigung. Es wird z.B. nicht versucht, sie zu repro –
duzieren oder zu falsifizieren und sie in Beziehung zu setzen zu struktu –
rellen, systeminhärenten Gründen , die der Unabhängigkeit entgegen –
stehen könnten. Freilich müsste eine solche Analyse in Österreich selbst
stattfinden und Evaluierungen bedürften der juristischen Expertise des
Justizministeriums.
Ad b): Die Statistik Austria ist wie alle nationalen sta –
tistischen Organisationen innerhalb der EU dazu angehalten, jene hundert UNO –
Indikatoren zu verwenden, die von Eurostat für die EU als relevant befunden wur –
den (Statistik Austria, 2020). Die Messung eines SDGs findet mit maximal sechs
Indikatoren statt. Das ist nicht viel, verglichen mit 43 Aktionen ( EU actions ) zu
verschiedenen Target-16.3-affinen Themen, welche die EU (European Commission,
o. J.) angestoßen hat und die zum Großteil noch nicht mit der Erhebung von Indika –
toren in Zusammenhang stehen. In der Indikatorenentwicklung nimmt die Statistik
Austria (2020) keinen Bezug auf diese Motivation der EU gegenüber den Ländern.
Diese Aktionen liefern teilweise Anküpfungspunkte für die Etablierung geeigneter
Indikatoren. Außerdem liefern sie Ansatzpunkte für spezifische Problemlösungen,
weshalb eine Beschäftigung mit ihnen anzuraten wäre.
53 Österreich profitiert vermutlich auch von der Eigenschaft seiner Verfassung, langlebig, aber nicht
konservativ, sondern aufgrund ihrer positivistischen Gestaltung flexibel zu sein. Österreichs dem Rechts –
staat dienende juristische Expertise gilt als sehr vertrauenswürdig. Hochrangige Amtsträger_innen (z.B.
Präsident_innen des VfgH, Vizepräsident_innen, wichtige Verfassungsrechtler_innen, Menschenrechts –
anwält_innen, Richter_innen etc.) sind in der Öffentlichkeit durch ihre Präsenz in den Medien populär;
ebenso wie das juristische politische Personal (Justizminister_in/-ministerium, Verfassungsminister_in/
Verfassungsdienst) an der Schnittstelle zwischen Gesetzgeber und Gerichtsbarkeit.
4 Beispielsweise liegen die CPI von Deutschland und der Schweiz bei 79 bzw. 86.
5 Vergleichsweise sind es in Deutschland 74 % der Einwohner_innen. Für die Schweiz liegen keine
Daten vor.
16_11 / Entwicklung valider Indikatoren zur Unabhängigkeit der Justiz auf der Grundlage von EU-
Empfehlungen 16_11.3 Optionenbeschreibung
Aus den skizzierten Desideraten lassen sich folgende
Optionen für Maßnahmenentwicklungen ableiten:
1. Formulieren von Indikatoren zur qualitätssichernden Unabhängigkeit der
Justiz, bemessen an ausgewiesenen finanziellen Engpässen, sowie
Beobachtung und Extrapolation künftiger diesbezüglicher Entwicklungen
und Deckung finanzieller Lücken durch das Finanzministerium.
2. Eruieren des Vertrauensverhältnisses von Österreichs Einwohner_
innen unter Verwendung von Indikatoren zur Messung der Unabhängig –
keit der Justiz mit kritischer Rücksichtnahme auf die Daten von Euro –
stat. Sie sollten die Unabhängigkeit der Justiz detaillierter erfassen und
zwecks Validitätssicherung auch erläutern, was unter „der Justiz“ ver –
standen wird oder erfragen, was die Bevölkerung darunter versteht. Geht
es etwa nur um die Unabhängigkeit von Richter_innen, oder sollte es
auch um die Legislative gehen und um die Messung, wann Politiker_in –
nen auf Gesetzesvorgaben nicht achten? Diesbezüglich müsste sich die
Vertrauensmessung auch mit dem Vertrauen in die Politik beschäftigen.
Entsprechende Indikatoren könnten zu den nationalen Gegebenheiten in
den letzten Jahren, wie Strukturreform der Justiz, Justizvorfälle, alter –
native Daten, Politbarometer (letzteres, um parteipolitische Einflüsse der
Gesetzgeber weitestgehend zu reduzieren und die Einhaltung von Men –
schenrechten als allen anderen Zielen übergeordnetes Ziel anzuvisieren)
in Relation gesetzt werden. Sie hängen auch von der Medienberichter –
stattung über die Justiz (Vorfälle, Bekanntheit und Beliebtheit ranghoher
Jurist_innen, Qualität der Berichterstattung) und der Bürger_innennähe
des Justizsystems ab.
3. Systematische Prüfung, ob Aktionsvorschläge der EU in Österreich
umgesetzt werden bzw. Prüfung, welche Aktionen speziell in Österreich
Grund geben , implementiert zu werden, dies vor dem Hintergrund der
rechtsstaatlichen Standards und Bedingungen wie für SDG 16 formuliert.
Ferner könnte sichergestellt werden, dass neue Aktionsvorschläge Be –
achtung finden und die Sinnhaftigkeit ihrer Implementierung in Österreich
überprüft wird; bestenfalls Gewährleistung einer für die EU vorbildlichen
Einhaltung (Österreich als Role Model ).
16_11 .3.1 Beschreibung der Option
bzw. der zugehörigen Maßnahmen
bzw. Maßnahmenkombinationen
1. Qualitätssicherung durch finanzielle Sicherheit
Die Berechnung des General government total expen –
diture on law courts im EU-Vergleich gibt keine Auskunft darüber, wie es tatsäch –
lich um die Finanzkraft der österreichischen Justiz bestellt ist und welche quali –
tativen Einbußen sich aus allfälligen finanziellen Engpässen ergeben. Es ist aber
evident, dass die Budgetierung des Justizressorts ein Marker für seine Qualität ist
und eben dies bestätigt die EU-Studie auch. Insofern wäre als nächster Schritt die
Entwicklung diesbezüglicher Indikatoren auf Österreich bezogen sinnvoll. Die her –
vorragende Datengrundlage inklusive Evaluation für die Generierung existiert seit
2019. Sie liefert der Wahrnehmungsbericht des Bundesministers für Verfassung,
Reformen, Deregulierung und Justiz a. D., Clemens Jabloner, von 2019. Bereits
2017 berichtete das Justizressort an den Rechnungshof, dass bei verantwortungs –
6
Optionen und Maßnahmenvoller Personalplanung weitere Einsparungen ohne die Gefahr spürbarer Qualitäts –
verluste nicht zu erbringen seien. Das derzeitige (2020) Justizministerium unter der
Leitung von BM Alma Zadic stimmt ihr Reformvorhaben auf Jabloners die Quali –
tätseinbußen aufzählenden Bericht ab, der von jahrelangen Budgetüberschreitun –
gen im Zigmillionenbereich aufgrund von gravierender Unterbudgetierung spricht.
Die größten Engpässe infolge der Unterbudgetierung (Jabloner, 2019) betreffen:
−Abbau von über 300 Planstellen in mehreren Bereichen ; gravierend vor allem
im Strafvollzug6 aufgrund von Aufgabenzuwächsen, der Einführung neuer Straf –
tatbestände, immer komplexeren Großverfahren und beim Kanzleipersonal (nur
jede zweite Stelle wird nachbesetzt), beim Bundesverwaltungsgericht und der
Justizwache; dadurch auch gravierender Wegfall von Arbeitsstunden für Häftlin –
ge. Als Qualitätsmängel werden auch Verfahrensverzögerungen und Engp ässe
bei der Bekämpfung von Terrorismus und Computerkriminalität genannt. Nicht
einmal Gerichtspraktika sind leistbar und wurden partiell extrem verkürzt.
−Fehlende strategische Personalentwicklung infolge der Personalreduktionen
in der Bundesverwaltung, Überalterung des Persona ls und fehlende Neuausbil –
dungen. Der Rechnungshof übte Kritik an der Ausgliederung der Justizbetreuung.
Die Justizbetreuungsagentur (JBA) habe in den letzten Jahren weder zu einer
Flexibilisierung des Strafvollzugs noch zu einer Einsparung von Planstellen ge –
führt, auch gibt es verfassungsrechtliche Bedenken. Jabloner (2019) warnt vor
einem Vertragsverletzungsverfahren gegen Österreich, betreffend die Familien-
und Jugendgerichtshilfe aufgrund von deren kostenbegründeter Ausgliederung in
die JBA bei gleichzeitig fehlendem Personal.
−Vermehrt Diversion statt Verurteilung , wobei die Millioneneinnahmen dadurch
(wie auch Gerichtsgebühren) ins Budget des Finanzministeriums fließen.
−Um über 200 % gestiegene medizinische Behandlungskosten für Häftlinge
binnen acht Jahren; ohne Finanzierung ist der gesetzliche Auftrag im Maßnah –
menvollzug nicht mehr zu erfüllen; Mangel an Medizinsachverständigen und
Dolmetscher_innen.
−Verzögerungen bei Asylgerichtsverfahren .
−Finanzielle Lücken bei der Inanspruchnahme von psychosozialer und juristi –
scher Prozessbegleitung und Opferhilfe nach Sexual- und Gewaltstraftaten .
Jabloner konstatierte für 2020 einen Mehrbedarf von
90,6 Mio. Euro, um den Status quo aufrechterhalten zu können – Reformprojekte
und neue Anforderungen, wie etwa immer mehr Großverfahren und neue Aufga –
ben, nicht einberechnet. Aufgrund des Berichts wurde das Justizressort 2020 um
immerhin 72,4 Mio. Euro für die Sicherstellung der unabhängigen Gerichtsbarkeit
und der Stärkung der Rechtssicherheit aufgestockt. Das Budget soll für neue Plan –
stellen, Reformprojekte, Prozessbegleitung, Verfahrenseffizienz und Digitalisierung
verwendet werden. Ob die Qualitätsziele somit erreicht werden können, bleibt zu
beobachten. Inwiefern k önnen durch den Mitteleinsatz die Unabhängigkeit und
Qualität der Justiz auch nachhaltig gesichert werden?
Maßnahmen:
Insofern der Wahrnehmungsbericht valide Parameter
und juristische Expertise liefert, lautet die Empfehlung dieses Optionenberichts,
einen Indikator oder mehrere Indikatoren zu entwickeln, die aufzeigen, an welchen
Stellen Unabhängigkeit und qualitätsvolles Gebaren der Justiz aufgrund man –
gelhafter finanzieller Ausstattung gefährdet sind bzw. künftig gefährdet werden
76 Zu menschenunwürdigen Zuständen in österreichischen Gefängnissen siehe die detaillierten Berichte der
Volksanwaltschaft (2018, S. 111-145) und Volksanwaltschaft (2019, S. 23-43).
16_11 / Entwicklung valider Indikatoren zur Unabhängigkeit der Justiz auf der Grundlage von EU-
Empfehlungen könnten. Die Indikatoren könnten die Relation zwischen Unterbudgetierungen und
deren direkten Auswirkungen auf die Qualität des Justizsystems darstellen und
prognostisch wirken. Aufgrund der hohen Elaboration des Wahrnehmungsberichts
sollte die Rückführung von spezifischen Qualitätsmängeln und gegebenenfalls gefähr –
deter Unabhängigkeit auf finanzielle Engpässe möglich sein. Im Anschluss an den
Wahrnehmungsbericht könnten somit auch künftig Argumentationsgrundlagen für
Budgetverhandlungen gelegt werden. Des Weiteren hat der Bericht bereits Über –
zeugungsarbeit geleistet, wie die Budgetverhandlungen der Justizministerin mit
Bezug auf die Arbeit ihres Vorgängers zeigen. Die Ergebnisse könnten im Einzel –
nen nochmals validiert werden, dann aufgegriffen und zu prognostischen Markern
(oder auch Controlling-Kennzahlen) zusammengefasst werden.
2. Unabhängigkeit der Justiz anhand valider
Methoden eruieren
In der Eurostat/DG COMM -Umfrage wurde mittels
Multiple-Choice-Fragebogen eruiert, wie EU-Bürger_innen auf einer siebenstufi –
gen Skala von „ very or fairly good “ über „fairly bad“ bis „unknown“ das Justizsys –
tem wahrnehmen (Eurostat, o. J. (b)). Das Ergebnis sagt etwas darüber aus, wie
die Bürger_innen wahrnehmen, gibt aber keine Auskunft darüber, wo dieses Wie
herkommt bzw. von welchen Parametern es abhängt. Dass die Wahrnehmung
der Bürger_innen zu kennen von Relevanz ist, mag dabei unbestritten sein. Die
Meinungsbildung erfolgt über die öffentlichen Medien sowie durch Erfahrungswerte
(selbst erfahrene Verfahren als Kläger_in/Opfer, Angeklagte_r, Zeuge_in oder vom
Hörensagen).
Auch differenziert der Begriff „justice system“ nicht
zwischen den genuinen Leistungen des Rechtssystems (Judikative) und der Politik
(Legislative). Welche Vorstellungen die EU-Bürger_innen vom Justizsystem haben,
bleibt somit unklar. Die Hintergründe solcher Ergebnisse zu erheben wäre von Vor –
teil, letztlich auch, um ein Bias auszuschließen, denn democratic assessment ist
immer mehr Urteil als Messung, genauer gesagt: Urteil über die Messung. Die Ver –
mischung von Fakt und Urteil bezeichnet Lord als „Experiment“ (Lord, 2013): Wir
wissen nicht, ob die erstrebten Werte, die wir gerne sehen möchten, auch unter
geänderten Bedingungen herauskommen. Des Weiteren hängen die Wahrnehmun –
gen von Bürger_innen immer auch von den Standards der erhebenden Länder ab
(Beetham, 2013). Sie sind daher rein statistisch kaum vergleichbar. Außerdem gibt
es Diskrepanzen zwischen dem Zustand einer Demokratie laut Expertenbewertung
und laut Umfragen in der Bevölkerung. Es gibt z.B. Länder mit Defiziten laut Exper –
tenbewertung, die sich aber in der Bewertung der Bevölkerung nicht wiederfinden:
While the established democracies are comparatively
sound, levels of popular disaffection remain stubbornly high. Two explanations are
then usually advanced for this discrepancy: on the input side, that popular expec –
tations of government have risen with increased education and rising standards
of consumer provision in the private sector; on the output side, that the compe –
tence of governments has been eroded by the process of globalization … Experts
(elite) are more likely to concentrate on institutional arrangements and the process
aspects of democracy, public opinion on outcomes, whether in terms of personal
security and economic wellbeing, or standards of conduct of elected representati –
ves. Of course, there is a relation between process and outcome, but this may not
always be apparent. (Beetham, 2013, S. 9)
Maßnahme: Qualitative Multiple-Choice-Befragung der
Einwohner_innen Österreichs, wovon sie die Unabhängigkeit der Justiz abhängig
machen bzw. worin sie sie gegeben sehen, dabei Bezugnahme auf jüngste Fälle
8
Optionen und Maßnahmenin der öffentlichen Diskussion, jüngste Erlässe und Gesetze, welche Grund geben,
sie am Justizsystem zweifeln zu lassen oder es gutzuheißen. Diese Umfrage sollte
Ergebnisse von Projekten zur Bürger_innenpartizipation/E-Government integrieren
(s.u.).
Jabloner nimmt im Wahrnehmungsbericht (2019) im
Hinblick auf Wahrung der Unabhängigkeit auch potenzielle strukturelle Unwägbar –
keiten im Zusammenspiel zwischen Justiz und Politik ins Visier. Sie mögen partiell
kleinteilig sein oder erscheinen, signalisieren aber die Existenz von tendenziellen
Vermischungsclustern, die leicht unterdrückt werden können:
−Gewaltenteilung: In Berichten von Oberstaatsanwaltschaften k äme es zu Weisun –
gen an das Parlament, was unzulässig ist, weil lediglich die/der Justizminister_in
Weisungsrecht hat.7 In einem ZIB 2-Interview (ORF) vom 17.06.19 gab Jabloner
seinen Eindruck kund, die Handhabung des Weisungsrechts bei der Staatsan –
waltschaft würde teilweise nur informell geschehen.
−Unabhängigkeit des Verfassungsdienstes: Jabloner plädiert für die Beibehaltung
des Freiraums des Verfassungsdienstes, wenn politische Vorhaben der Bundes –
verfassung widersprechen könnten .
Außerdem geben politische, rechtsstaatlich bedenk –
liche Vorfälle in der jüngsten Geschichte sowie angesagte Modernisierungen Grün –
de, um zu eruieren, ob strukturelle Maßnahmen ergriffen werden sollten. So stellt
die ehemalige Europaparlamentarierin, Justizministerin und Richterin am EuGH
Maria Berger Diskussionsbedarf in den Raum,
−ob jemand überhaupt für das Amt einer_s Bundesministerin/Bundesministers
vorgeschlagen werden dürfe, die/der die Politik über das Recht und die Europäi –
sche Menschenrechtskonvention in Frage stellt,
−dass die Verantwortlichkeiten von Bund und Ländern zu sehr verschränkt seien8,
−dass Österreich einen Grundrechtekatalog benötige,
−über zeitgemäße Bürgerbeteiligungsformen (außer Volksabstimmung und Volks –
befragung) als eine Stärkung basaler Demokratieelemente in der repräsentativen
Demokratie; dahinter steht das Bedürfnis, am Prozess der Normproduktion mit –
zuwirken, nicht nur als Normobjekt zu fungieren (vgl. Galtung, 1994, S. 155),9
−über einen öffentlichen Zugang zu Dokumenten.
Die Volksanwaltschaft weist in ihrer Empfehlungsliste
auf die Notwendigkeit hin,
−die Kommissionen des Nationalen Präventionsmechanismus rechtzeitig über
bevorstehende Einsätze der Exekutive aufzuklären, damit sie ihr Mandat korrekt
erfüllen können. Die Kommunikation mit den Landespolizeidienststellen sei
schwierig (Volksanwaltschaft, 2019, S. 45).
Maßnahmen:
Wie beim Thema Budgetierung für potenzielle struk –
7 Siehe Jabloner (2019, S. 6). Zur Problematik der klaren Gewaltenteilung siehe Ellrich (2009, S. 217ff.).
8 Interview mit Maria Berger in der ORF-Sendung „100 Jahre Bundesverfassung“, ausgestrahlt am
01.10.20.
9 Die Diskussion um die Mitsprache der Bürger_innen wird auch in der Theorie sehr aktuell geführt. Hard und
Negri als Beispiele für sehr populäre Vertreter des Kommunitarismus erwarten sogar eine Konstitutionalisierung
des Kommunen. Dahinter steht der Gedanke, die politisch repräsentierte vermeintliche volonté génerale, hinter
der eher der Gemeinwille (nur) der Nation stünde, werde durch die Souveränität einer Gesellschaft der Vielheit
als souveränes Volk (Multitude) abgelöst, das sich selbst nicht nur als „Vermittlungsapparat“ versteht (vgl. Hardt
& Negri, 2018, S. 167). Der hinter solchen Theorien stehende Biopolitik-Diskurs führt auf die Exklusion des
Menschen außerhalb seiner Ummäntelung als Bürger_in zurück und verweist auf das Problem der Souveränität.
Siehe vor allem die Schriften Michel Foucaults (1987) sowie Agamben (2002). Philosophische Handlungs- und
Rationalitätstheorien, wie beispielsweise Nida-Rümelins Demokratietheorie der Strukturellen Rationalität (Nida-
Rümelin, 1999) halten den Aspekt des nur fiktiv repräsentierten Volkswillens hingegen für nicht zentral für einen
demokratischen Rechtsstaat und eine auf Individualrechten basierende Zivilgesellschaft. Eine Übersicht über
9
16_11 / Entwicklung valider Indikatoren zur Unabhängigkeit der Justiz auf der Grundlage von EU-
Empfehlungen turelle Reformen ist auch hier der Fall, dass Situationsanalysen von Problem –
feldern vorliegen und nun für die genuin österreichische SDG-Strategie befragt,
diskutiert und in Form von formulierten Qualitätsindikatoren fruchtbar gemacht
werden könnten, während der rechtsethische Impuls von SDG 16 leitend für eine
tiefe Auseinandersetzung mit Reformvorschlägen bliebe – ist es doch so, dass das
österreichische rechtspositivistische System deswegen gut funktioniert, weil die
Abkommen zu Grund- und Menschenrechten ratifiziert wurden und auch die unver –
bindlichen SDGs von Österreich mitgetragen werden. Ohne Rechtsethik wäre ein
friedenfestigender Rechtspositivismus weder denkbar noch möglich. Strukturelle
Unzulänglichkeiten mit Indikatoren zu erfassen ist allerdings nicht einfach, weil
es sich um spezifische Problemsituationen handelt, deren Ursachen nicht ohne
weiteres eruiert werden k önnen . Auch wären die Ergebnisse nicht über Österreichs
Grenzen hinweg objektivierbar. Nichtsdestotrotz sollten strukturelle Mängel in die
Überlegungen zur Indikatorenbildung einfließen. Als Maßnahme käme eine qua –
litative Reflexion in Form eines Think-Tanks mit unabhängigen Expert_innen als
Berater_innen in Frage: Wie beeinflussen die erwähnten Mängel Image, Effektivität,
Stärke und Vertrauenswürdigkeit des Justizsystems?
Maßnahme für eine verbesserte Bürger_
innen partizipation könnte es sein, Erkenntnisse und Erfahrungen aus Wien und
Oberösterreich (s. Kapitel Bisherige Erfahrung mit dieser Option oder ähnlichen
Optionen ) für die vorgeschlagene überregionale Umfrage zum Vertrauensaufbau
zu nutzen, bieten Partizipationsmöglichkeiten doch besondere Möglichkeiten für
den Vertrauensaufbau.
3. Aktionsvorschläge der EU aufgreifen
Target-16.3-affine Themen, welche die EU gesetzt hat
(European Commission, o. J.) und zu denen es zum Großteil noch keine Erhebun –
gen/Indikatoren gibt, erleichtern das Erkennen von Verbesserungspotenzialen im
eigenen Land. Die für SDG 16 43 gelisteten Aktionen mit verlinkten Dokumenten
berühren auch weitere Targets von SDG 16 sowie andere SDGs. Eine systemati –
sche Überprüfung der Themenschlagworte und eine Kontrolle, welche von ihnen
vor dem Hintergrund der rechtsstaatlichen Standards und Bedingungen, wie für
Target 16.3 formuliert, behandlungsbedürftig sind, könnte sich lohnen. Auch die
Vornahme von Anpassungen an diese Standards sowie die Systematisierung der
Überprüfung, erscheint sinnvoll. An dieser Stelle seien einige Aktionen heraus –
gegriffen, um zu zeigen, welche Angelpunkte auf EU-Ebene gesehen werden, um
rechtliche Situationen umfassend zu bewerten und zu gestalten. Fachliche Aus –
einandersetzungen mit diesen Themen, bezogen auf die spezifischen Urgenzen
Österreichs, könnten zu eher einfach durchführbaren Maßnahmen, z.B. bei der
Opferentsch ädigung, bis hin zur Konstituierung neuer Menschenrechte10 führen,
wie bei der möglichen Einführung eines Umweltrechts. Maßgabe ist immer die nationale
Prüfung auf Konformität mit den SDG 16-Targets und folgend die Formulierung von
qualitativen Indikatoren. Die gelisteten Aktionen der EU können quasi als „ Themen-
Checklist“ oder „Problemfeld-Checklist“ verwendet werden. Im schlimmsten Fall
liefern sie Hinweise für bessere Standards, an denen Österreich sich orientieren
könnte. Weiters liefern sie Informationen über den Umgang anderer EU-Staaten
in ähnlichen Situationen. Überschneidend mit Target 16.3 beschäftigen sie sich
u.a. mit der Beteiligung der Öffentlichkeit an Entscheidungsprozessen, der Ent –
schädigung von Opfern von Straftaten, der europäischen Migrationsagenda, dem
10 Galtung (1994, S. 161) zählt in einem „Wegweiser in die Zukunft“ Bedürfnisse auf, die zu
Menschenrechten werden könnten, darunter etwa das „Recht auf soziale Transparenz“ oder das Recht,
„nicht in einem Krieg getötet“ zu werden.
10
Optionen und MaßnahmenGrenzüberwachungssystem, Folterbekämpfung, Stärkung der Rechtsstaatlichkeit,
Integration von Nicht-EU-Bürgern, Gerechtigkeit, Prozesskostenhilfe und der Un –
schuldsvermutung.
Um solche oder andere Situationen zu analysieren
und Maßnahmen zu setzen, wäre es naheliegend, die ministerielle Zuständigkeit
für SDG 16 im Justizministerium, in Einzelbereichen in Kooperation mit dem Minis –
terium für EU und Verfassung, zu sehen.
16_11 .3.2 Erwartete Wirkungsweise
Die Auswirkungen der finanziellen Neuausstattung
des Justizressorts werden sich u.a. unmittelbar positiv auf den gesamten Strafvoll –
zug, auf Verfahrenslängen und Verfahrensabschlüsse, Entlastung des überlasteten
Personals, für Opfer und Familien, denen Beihilfen zustehen, und in der Prozess –
begleitung Traumatisierter auswirken sowie in der Länge von Asylgerichtsver –
fahren. Allein diese Effekte wirken vertrauensfördernd, weil sie Rechtssicherheit
gewährleisten.
Eine gleichzeitige qualitative Umfrage über Vertrauen
ins und die Unabhängigkeit des Justizsystems in Österreich wirkt vertrauensför –
dernd, wenn gleichzeitig strukturverändernde und -bildende Maßnahmen greifen
und kommuniziert werden. Sie würden belegen, dass Österreich es ernst meint
mit der Erreichung des Targets 16.3. Die Zuhilfenahme der EU-Aktionen können
diesem Prozess förderlich sein.
16_11 .3.3 Bisherige Erfahrungen mit dieser
Option oder ähnlichen Optionen
Bund und Länder beteiligen sich aktiv an der globalen
Diskussion um Bürger_innenpartizipation an politischen Gestaltungs- und Ent –
scheidungsprozessen und realisierten auf regionaler Ebene Pilotprojekte:
−Multilateralismus: Die 5. Konferenz der Weltorganisation der nationalen Parla –
mente (Inter-Parlimentary Union – IPU) in Zusammenarbeit mit der UNO wurde
im August 2020 in Wien abgehalten, dabei erstmals mit einem Nationalstaat als
Veranstalter. Ihr generelles Ziel ist die Stärkung der parlamentarischen Dimen –
sion im Rahmen der Global Governance. Eines der Panel-Themen der aufgrund
der Corona-Krise virtuell abgehaltenen Konferenz lautete: „ Improving governan –
ce by bridging the gap between parliaments and the people “. Es fragt direkt nach
Möglichkeiten, wie Parlamente engere Beziehungen zur Öffentlichkeit knüpfen
können, um das Vertrauen der Menschen in Parlamente und demokratische
Regierungsführung (wieder) zu gewinnen und zielt auf die Entwicklung eines
strategischen Ansatzes, um echte und sinnvolle Verbindungen aufzubauen.
−Partizipationsbeispiele auf regionaler Ebene: Das Demokratiezentrum Wien
listet Maßnahmen, geclustert nach Art der Partizipation und Zielgruppen (Demo –
kratiezentrum, o. J.). Die oberösterreichische Zukunftsakademie hat Pilotprojekte
lanciert, in denen Bürger_innen an der Gestaltung von Zukunftsprozessen von
Gemeinden partizipieren können (Bundeskanzleramt,
o. J.).
Mit dem Thema Bürger_innenpartizipation einher geht
die Zugänglichmachung von Informationen und die Transparenz von Entschei –
dungsfindungsprozessen. Auch diesbezüglich bestehen Bestrebungen:
−Die GovLabAustria -Projekte „Transparenz und Partizipation in der Rechtsetzung“
und „Österreich 2035 – Der Staat und ich“ experimentieren mit der Zusammen –
führung von Expertise aus Politik, Verwaltung, Wissenschaft, Wirtschaft und
11
16_11 / Entwicklung valider Indikatoren zur Unabhängigkeit der Justiz auf der Grundlage von EU-
Empfehlungen Zivilgesellschaft und wie gewonnenes Wissens für die Rechtssetzung fruchtbar
gemacht werden kann. Getestet werden auch gezielte informations- und kommu –
nikationstechnische Einsatzmöglichkeiten von Partizipationstools.
16_11 .3.4 Zeithorizont der Wirksamkeit
−Indikatorenentwicklung, um die Relation zwischen Unterbudgetierungen des
Justizressorts und deren qualitativen Auswirkungen zu erfassen. Es handelt
sich um unbefristet wirksame Controllingmaßnahmen, die ab dem Jahr ihrer Ein –
führung annual wirksam wären.
−Umfrage zum Vertrauen in das Justizsystem: Die Maßnahme wäre zunächst
einmalig wirksam. Wiederholte Umfragen wären neuen Gegebenheiten anzu –
passen. Da der Diskurs zur Stärkung des Vertrauens regional, national sowie
global geführt wird und an das komplexe Thema repräsentative/partizipative
Demokratie anknüpft und somit wissenschaftliche Dimensionen hat, würde eine
Umfrage der Statistik Austria für den SDG-Bericht eher eine richtungsweisende
Momentaufnahme sein, die offen, flexibel und anschlussfähig an Erkenntnisse
aus laufenden Forschungsprojekten bleiben könnte. Die Maßnahme würde sich
mittelfristig positiv auf eine Vertrauensstärkung auswirken, falls aus den Ergeb –
nissen Handlungskonsequenzen gezogen werden.
−Umfragen und Indikatorenformulierung zur Bürger_innenpartizipation im
Rahmen von Pilotprojekten wirken einmalig und sind vom Projektfortschritt ab –
hängig, während retrospektive Umfragen bereits abgeschlossener und laufender
Partizipationsprozesse in den Bundesländern kurzfristig und wiederholt durch –
geführt werden könnten. Feedbackschleifen könnten auf regionaler und Gemein –
deebene rasch etabliert werden und in den nächsten kollektiven Entscheidungs –
prozess regulierend einfließen. Die Maßnahme würde sich mittelfristig positiv auf
eine Vertrauensstärkung auswirken, falls aus den Ergebnissen Handlungskonse –
quenzen gezogen werden.
16_11.3.5 Vergleich mit anderen Optionen,
mit denen das Ziel erreicht werden kann
Optimierung bestehender Indikatoren zur Unabhän –
gigkeit der Justiz auf der Grundlage ihrer Setzung durch die UNO [Target 16.3 –
Option 12].
Die Optionen 11 und 12 von Target 16.3 überschnei –
den sich in wenigen Punkten, insofern sie ähnliche Ziele verfolgen: Option 11
untersucht die Empfehlungen der EU für die Optimierung von Indikatoren – das
betrifft neue Indikatoren; Option 12 baut auf den drei Indikatoren der UNO für Tar –
get 16.3 auf. Zwar unterscheiden sich die Indikatoren(empfehlungen), jedoch sind
spezifisch österreichische Mängel oft auf das unterbudgetierte Justizministerium
oder auf strukturelle Mängel (beide Option 11) zurückzuführen, die sich dann in
konkreten Missständen auswirken, welche menschenrechtlich fragwürdig sind und
in Option 12 konkret thematisiert werden.
16_11.3.6 Offene Fragestellungen
−Inwieweit ist die Berufung auf einen so starken Rechtspositivismus, dass er
droht, rechtsethische Fragen unsichtbar zu machen, der Entwicklung des
Rechtspopulismus oder gar Rechtsradikalismus förderlich?
−Gibt es Gesetze in Österreich, die Target 16.3 potenziell (je nach Hermeneutik)
oder eindeutig entgegenstehen? Was geschieht mit diesen Gesetzen, vor allem
dann, wenn sie verfassungskonform sind?
12
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13 −Welchen Einfluss hat die politische Gesinnung von Bürger_innen auf ihre Wahr –
nehmung von Unabhängigkeit der und ihr Vertrauen in die Justiz?
−Was ist „die Justiz“ für Bürger_innen? Wie geschieht die Meinungsbildung über
„das Justizsystem“? Was genau versteht der Gesetzgeber darunter, wenn er die
Meinungsbildung von Bürger_innen abfragt? Welches Verständnis erwartet er
sich? Die Frage, was das Justizsystem sei, ist nicht nur eine empirische Frage,
sondern auch eine Aufklärungsfrage. Vertrauen haben zu können setzt ein trans –
parentes Bild voraus. Da zur Vertrauensabfrage auch die Themen der anderen
Meinungen bis hin zu Widerstandsformen gehören, stellt sich außerdem die Fra –
ge, ob das Vertrauen in die Judikative dann wirklich unabhängig von der legislati –
ven Gewalt der Politik und damit unabhängig vom Vertrauen in den Gesetzgeber
abgefragt werden kann.

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