SDG_16_Option_16_04_pdf_20231119_182412.txt

Optionen
und
Maßnahmen
Österreichs Handlungsoptionen
zur Umsetzung
der UN-Agenda 2030
für eine lebenswerte Zukunft.
UniNEtZ –
Universitäten und Nachhaltige
Entwicklungsziele
Optionen und Maßnahmen1
16_04 / Gewalt und Vernachlässigung in allen Gesellschaftsbereichen entgegenwirken16_04
Target 16.2Autor_innen:
Dr. phil. habil. Claudia Paganini (LFU Innsbruck,
Institut für Christliche Philosophie), Ao. Univ. Prof. Dr.
Wilhelm Guggenberger (LFU Innsbruck, Institut für
Systematische Theologie)
Reviewer:
Dr. Helmut Sax (Ludwig Boltzmann-Institut für Grund-
und Menschenrechte Wien), Dr. Daniel Wehinger (LFU
Innsbruck, Institut für Christliche Philosophie)Gewalt und Vernachlässigung in allen
Gesellschaftsbereichen entgegenwirken
2
3 16_04 .1 Ziele der Option
3 16_04.2 Hintergrund der Option
5 16_04.3 Optionenbeschreibung
5 16_04.3.1 Beschreibung der Option bzw. der zugehörigen Maßnahmen
bzw. Maßnahmenkombinationen
8 16_04.3.2 Erwartete Wirkweise
8 16_04.3.3 Bisherige Erfahrungen mit dieser Option oder ähnlichen
8 16_04.3.4 Zeithorizont der Wirksamkeit
8 16_04.3.5 Vergeich mit anderen Optionen, mit denen das Ziel erreicht werden kann
8 16_04.3.6 Interaktionen mit anderen Optionen
9 16_04 .3.7 Offene Fragestellungen
9 LiteraturInhalt
Optionen und Maßnahmen16_04.1 Ziele der Option
Wenngleich eine scharfe Abgrenzung der unter –
schiedlichen Formen von Gewalt, die Kinder und Jugendliche erleiden, nicht ohne
weiteres möglich ist1, scheint doch auf der Hand zu liegen, dass der direkten
physischen und psychischen Gewalt gemeinsam mit der Vernachlässigung in der
Umsetzung von Target 2 besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden muss. Der
unmittelbaren Gewalterfahrung zuzurechnen sind jedenfalls auch Situationen, in
denen Kinder Zeug_innen von Gewalt werden, unabhängig davon, ob sich die
Übergriffe innerhalb der eigenen Familie oder innerhalb von Institutionen ereignen.
Hier effektive Maßnahmen zu entwerfen ist das Ziel der Option 04. Option 05 wird
sich dann im Zusammenhang mit der sexuellen Gewalt auch mit dem Kind als Wirt –
schaftsfaktor und damit mit dem Gewaltort „Wirtschaft“ auseinandersetzen, Option
06 mit der Gewalt, die Kinder und Jugendliche einander antun, also dem Gewaltort
„Peergroup“ , Option 07 mit einer umfassenden Realisierung der Kinderrechte und
Option 08 mit der Frage, wie der „Zugang zum Recht” für Kinder als Betroffene
effektiv gewährleistet werden kann. Für alle im Kontext von Target 2 entwickelten
Optionen gilt ab er jedenfalls, dass ein bloßes Senken von negativen Fallzahlen
nicht ausreichend ist, sondern es darum geht, ein Klima zu schaffen, in dem Kinder
unbeschwert, begleitet und gefördert die ersten Schritte in ihrem Leben unterneh –
men können.
16_04.2 Hintergrund der Option
Das Verbot von physischer und psychischer Gewalt in
der Erziehung ist in Österreich seit 1989 gesetzlich verankert und nimmt außerdem
einen wichtigen Stellenwert im Rahmen der Kinderrechte ein. Tatsächlich zeigt
sich in einer Studie des Bundesministeriums für Familien und Jugend aus dem
Jahr 2014 , dass die Akzeptanz gegenüber Gewalt in der Erziehung im Vergleichs –
zeitraum 1977 bis 2014 deutlich gesunken ist (Bundesministerium für Familien und
Jugend, 2014). So verurteilten 2014 immerhin 78 % der Befragten das Schlagen mit
der Hand – Zunahme der Ablehnung gegenüber 1977 um 51 % –, um 34 % mehr
Menschen lehnten zu diesem Zeitpunkt auch heftige Ohrfeigen ab und um 30 %
stiegen schließlich auch die Bedenken bei einem leichten Klaps an. Dieses ver –
änderte Bewusstsein hinsichtlich der Problematik von Körperstrafen ging allerdings
nicht mit einer Zunahme der Sensibilität gegenüber psychischer Gewalt einher. So
ergab eine Studie der M öwe Kinderschutzzentren aus dem Jahr 2016, dass nur
26 % der Befragten die verschiedenen Formen der als Strafe eingesetzten oder
unterbewusst praktizierten psychischen Brutalität – wie beispielsweise anbrüllen,
beschimpfen, tagelang nicht mit dem Kind reden – auch als Gewalt bzw. als
problematisch wahrnahmen (Möwe, 2016).
Aus derselben Studie ging hervor, dass psychische
Gewalt in der Erziehung ansteigt, wobei dies sowohl der Überforderung der Eltern
als auch einem mangelnden Bewusstsein geschuldet sein kann. Eine Differen –
zierung erfährt der Befund, wenn man noch einmal die bereits zitierte Studie des
Bundesministeriums „Das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung“ heranzieht, der
zufolge im Jahr 2014 psychische Gewalt im familiären Umfeld gang und gäbe war,
im Speziellen: nicht miteinander reden (Plus von 19 % gegenüber 1977), böse sein
31 Für eine detaillierte Darstellung siehe die diversen Dokumente des Netzwerks Kinderrechte Österreich, ins –
besondere Netzwerk Kinderrechte Österreich (2019).
16_04 / Gewalt und Vernachlässigung in allen Gesellschaftsbereichen entgegenwirkenbzw. tadeln (Plus von 25 %), schreien und ausschimpfen (Plus von 32 %). Bedauer –
licherweise geht mit dieser Steigerung – bei einer gleichzeitigen Abnahme der
(grundsätzlichen) Akzeptanz von Körperstrafen – auch eine Zunahme der körper –
lichen Gewalt einher: 62 % der Befragten gaben an, selbst körperliche Züchtigung
in Form eines leichten Klapses erfahren zu haben (ein Plus von 14 %), andere For –
men der physischen Erziehungsgewalt wie auf die Finger schlagen, an den Ohren
ziehen, an den Haaren reißen (Plus von 5 %) oder das Prügeln mit Gegenständen
(Plus von 7 %) nahmen ebenso zu. Allerdings liegt diese Studie mittlerweile sechs
Jahre zurück, die aktuellen Daten der Kriminalitätsberichte (Bundesministerium für
Inneres, o. J.) von Statistik Austria, wie sie die Forschergruppe im Hinblick auf In –
dikator 1 ausgewertet hat, zeigen für die Periode 2014 bis 2020 zwar keinen Trend,
sehr wohl aber, dass physische und psychische Gewalt gegen Kinder im familiären
Kontext nach wie vor ein ernst zu nehmendes Problem darstellen.
Äußerst belastend ist für Kinder und Jugendliche aber
nicht nur selbst erlittene Gewalt, sondern auch die – üblicherweise von einem
Elternteil gegenüber einem anderen praktizierte – Gewalt, von der sie Zeug_innen
werden. In die passive Beobachterposition gezwungen erleben die Betroffenen
massiven Stress, Angst und das Gefühl von Isolation, was auf formaler Ebene ei –
nem Verstoß gegen das Recht des Kindes auf Sicherheit gleichkommt (Loidl, 2013).
Das trifft auch zu, wenn das Kind nicht direkt anwesend ist, also wenn anstelle
eines unmittelbaren Hörens und Sehens ein Empfinden tritt, d.h. dass Anspannung,
Angst, Einschüchterung und physische Verletzungen des gefährdeten Elternteils
im Alltag spürbar sind. Dadurch werden Kinder in belastende Situationen gezwun –
gen, sie stehen vor dem Dilemma, sich durch ein Eingreifen selbst in Gefahr zu
bringen oder aber sich für ihr Nichthandeln schuldig zu fühlen. Verstärkt werden
die Schuldgefühle einerseits dadurch, dass Kinder dem Loyalitätskonflikt, der sich
durch die Notwendigkeit, sich für einen Elternteil zu entscheiden, ergibt, emotional
kaum gewachsen sind, andererseits dadurch, dass sie sich selbst als die Ursache
für den Konflikt erleben. Auch kann es zu einer Parentifizierung kommen, d.h. dass
ältere Geschwister die Verantwortung für j üngere übernehmen. In der Folge ver –
ursacht das Miterleben elterlicher Partnerschaftsgewalt eine verminderte Konzent –
rationsfähigkeit, mangelhafte schulische Leistungen, Bindungsschwierigkeiten, ein
größeres Risiko, im Erwachsenenalter selbst Partnergewalt auszuüben oder zu
erleiden, und einen erhöhten psychotherapeutischen Behandlungsbedarf (Kindler,
Salzgeber, Fichtner & Werner, 2004, S. 1245). Trotz einer auch hier dürftigen
Datenlage ist Schätzungen zufolge (Kindler, 2007, S. 39) von 50.000 bis 70.000
betroffenen Kindern und Jugendlichen auszugehen.
Ähnlich unterrepräsentiert in der gesellschaftlichen
Wahrnehmung wie die Gewaltzeugenschaft ist das Problem der Vernachläs –
sigung, die – insbesondere wenn Kleinkinder betroffen sind – zu erheblichen
Entwicklungsbeeinträchtigungen (Markefka & Nauck, 1993) führen kann. Ver –
nachlässigung ereignet sich dabei nicht bloß auf der physisch-materiellen Ebene
(schmutzige Kleidung, keine angemessene Ernährung, ungeheizte, verschmutzte
oder extrem unordentliche Räume, mangelhafte Hygiene), sondern v.a. auch auf
der psychisch-emotionalen Ebene (keine Aufmerksamkeit für das Kind, häufiges
Alleinzuhauselassen, keine gemeinsamen Aktivitäten). Die Ursachen sind vielfältig,
können in einer Traumatisierung der Eltern in der eigenen Kindheit wurzeln, aber
auch in einer akuten materiellen oder psychischen Überforderung. Anzumerken ist
jedenfalls, dass es sich bei der Vernachlässigung nicht bloß um ein Problem sozial
schlechtergestellter Familien handelt. Vielmehr kommt es gerade in wohlhabenden
Familien nicht selten zu verschiedenen Formen der Wohlstandsverwahrlosung,
4
Optionen und Maßnahmenwobei hier einmal mehr keine validen Daten vorliegen. Besonders massiv ver –
nachlässigungsgefährdet sind aber unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Für
diese Kinder und Jugendlichen stehen nämlich wesentlich weniger finanzielle
Mittel zur Verfügung – nur etwa zwei Drittel dessen, was für einheimische Kinder
und Jugendliche in Fremdunterbringung ausgegeben wird – und es gibt auch keine
Obsorgeregelung, solange das offizielle (materielle) Asylverfahren nicht eröffnet
worden ist.
Gewalt und Vernachlässigung sind Kinder aber selbst –
verständlich nicht nur im familiären Kontext ausgesetzt. Vielmehr betreffen diese
Probleme auch den gesellschaftlichen Rahmen, in dem sich Kinder und Jugendli –
che bewegen, insbesondere insofern sie in Institutionen eingebunden sind – wobei
hier zu unterscheiden ist zwischen Kindern, die fremduntergebracht sind und in
Einrichtungen von Kirchen, der Länder oder des Bundes aufwachsen, und Kindern,
die mit Institutionen in Kontakt kommen, insofern sie zur Schule gehen, Mitglieder
bei Sportvereinen etc. sind. Gerade in den letzten Jahren ist immer mehr bekannt
geworden, dass „Heimkinder“ auch in der jüngeren Vergangenheit häufig Opfer
von Demütigung, Gewalt und sexuellen Übergriffen wurden bzw. werden. In einer
Situation der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins wagen sie es oft über Jahre
hinweg nicht, sich Außenstehenden anzuvertrauen, und wenn sie es schließlich
tun, wird ihnen unter Umständen nicht geglaubt. Im Bildungssystem kommt körper –
liche Gewalt seitens der Lehrerschaft kaum noch vor, sehr wohl aber psychische
Gewalt in Form von Erniedrigung bis hin zu systematischem Mobbing. Aber auch
strukturelle Gewalt ist omnipräsent, etwa in Form von Intransparenz bei der Leis –
tungsbeurteilung oder in der Unmöglichkeit, Rechtsmittel gegen Notenentschei –
dungen einzulegen.
16_04.3 Optionenbeschreibung
16_04 .3.1 Beschreibung der Option
bzw. der zugehörigen Maßnahmen
bzw. Maßnahmenkombinationen
Da die Thematik der Gewalt und Vernachlässigung
von Kindern in Familie und Gesellschaft vielschichtige Problemkonstellationen
umfasst, ist es entscheidend, dass eine Vielzahl an einander ergänzenden Maß –
nahmen entschlossen umgesetzt wird. Diese betreffen einerseits eine kurzfristige
effektive Krisenintervention, andererseits langfristige Unterstützung und Bewusst –
seinsbildung.
−Rasches Eingreifen bei Verdacht auf Gefährdung von Kindern
Ein zentrales Element beim Schutz von Kindern vor el –
terlicher Gewalt ist das rasche Eingreifen. Dabei ist die Kinder- und Jugendhilfe mit
der Herausforderung konfrontiert, dass auf der einen Seite durch ein nicht recht –
zeitiges bzw. nicht ausreichend effektives Eingreifen die psychische und physische
Gesundheit oder – insbesondere bei Kleinkindern – sogar das Leben des Kindes
in Gefahr sind, dass aber auf der anderen Seite verfrühte Eingriffe vermieden bzw.
die elterlichen Rechte gewahrt werden m üssen. Von entscheidender Bedeutung
sind daher laufende Schulungen und die Unterstützung von Personen, die erste
Anzeichen von Gewalt erkennen können bzw. sollen, insbesondere von Sozial –
arbeiter_innen, aber auch von Kindergärtner_innen, Lehrer_innen und (Kinder-)
Ärzt_innen. Außerdem bedarf es eines gemeinsamen Vorgehens unabhängig vom
jeweiligen Bundesland, einer ausreichenden Förderung von Kinderschutzzentren,
Gewaltschutzzentren, Frauenhäusern sowie von Projekten zur Gewaltprävention.
5
16_04 / Gewalt und Vernachlässigung in allen Gesellschaftsbereichen entgegenwirkenEin weiterer wichtiger Faktor beim Erkennen und Verhindern von Gewalt ist die Ko –
operation der genannten Einrichtungen mit der Kinder- und Jugendhilfe, mit Polizei,
Schule und Vertreter_innen des Gesundheitssystems, sodass im Sinn einer „Ver –
antwortungsgemeinschaft für Kinder“ (Kinder- und Jugendanwaltschaften Öster –
reichs, 2019, S. 25) effektive Kinderschutzsysteme (Sax, 2020) entstehen. Wo eine
solche Zusammenarbeit nur ungenügend geschieht, führt das zu einem Informati –
ons- und Kontextverlust zulasten der gefährdeten Kinder.
−Ausbau der „Frühen Hilfen“
Doch auch in Familien, wo die Überforderung der
Eltern bisher zu keiner akuten Gefährdung geführt hat, besteht Handlungsbedarf.
Wichtig ist dabei ein positives Framing , etwa durch einen „Willkommensbesuch“ –
d.h. ein einmaliger Besuch jeder Familie bei der Geburt eines Kindes –, weil nur
so einer Stigmatisierung vorgebeugt werden kann. In Kooperation mit den Frau –
en- und Gewaltschutzeinrichtungen sind dann Maßnahmen zur Minderung bzw.
Beseitigung von Risikofaktoren zu ergreifen, die Vernachlässigung und Gewalt be –
günstigen. Außerdem sind finanzielle Mittel nötig, damit individuelle Einzelbetreu –
ungsmaßnahmen ausgebaut und die ambulante Unterstützung all jener Familien,
die Hilfe benötigen, gewährleistet werden kann.
−Ausbau des Beratungsangebotes für Kinder, Jugendliche und Erwachsene
Kinderschutzzentren, Beratungs- und Schutzein –
richtungen für Mädchen bzw. für Frauen mit Kindern sind unverzichtbare Glieder
im gemeinsamen Kampf gegen Gewalt an Kindern und Jugendlichen. Nur wenn
diese Einrichtungen mit ausreichenden personellen und finanziellen Ressourcen
ausgestattet sind, können sie die Opfer von Gewalterfahrungen erfolgreich beraten
und unterstützen bzw. Erwachsene dazu anleiten, sich selbst in der Elternrolle kri –
tisch zu reflektieren und am eigenen Umgang mit dem Kind zu arbeiten. Vor dem
Hintergrund, dass Familie als dynamisches Gefüge mit einem Potential sowohl für
Verbesserung als auch für Verschlechterung gesehen werden kann, ist neben der
Soforthilfe auch eine längerfristige, entsprechend kostenintensivere Begleitung der
Betroffenen sicherzustellen sowie außerdem die therapeutische Arbeit mit (poten –
tiellen) Täter_innen wie beispielsweise gewaltbereiten Vätern oder Partner_innen.
Wichtig wäre schließlich auch eine regelmäßige Evaluation der Angebote aus Sicht
der Kinder und Jugendlichen selbst, insbesondere hinsichtlich ihrer Bekanntheit,
Zugänglichkeit und Verfügbarkeit.
−Bewusstseinsbildung im Zusammenhang mit Gewalt in der Erziehung
Da das Bewusstsein der Eltern im Hinblick auf die
Auswirkungen von Gewalt in der Erziehung sehr unterschiedlich ausgeprägt bzw.
gerade im Zusammenhang mit milden Körperstrafen und psychischer Gewalt zum
Teil nur sehr ungenügend vorhanden ist, sind Sensibilisierungsmaßnahmen un –
abdingbar. Insbesondere sollen Erwachsene im Kontext der Elternbildung über die
Schäden, die mit den verschiedenen Formen der Gewalt verbunden sind, aufge –
klärt und darin geschult werden, gewaltfreie Erziehung zu praktizieren.
−Problem der Zeugenschaft von Gewalt wahrnehmen
Hinsichtlich der zum Teil massiven Auswirkungen auf
die kindliche Entwicklung, die durch eine Zeug_innenschaft von Partner_innen –
gewalt – eine selbst in der Forschung noch unterrepräsentierte Thematik – zu er –
warten sind, ist in erster Linie Bewusstseinsbildung notwendig. Das bedeutet aber
auch anzuerkennen, dass sich Folgen von häuslicher Gewalt häufig erst Jahre,
nachdem die Gewalt (mit)erlebt wurde, manifestieren können . Vor diesem Hinter –
grund braucht es einen Ausbau von Beratungsstellen, die über entsprechende
Kompetenzen verfügen. Anders als es derzeit der Fall ist, wo Kinder, die Zeug_in –
6
Optionen und Maßnahmennen von häuslicher Gewalt wurden, nur bei Tötungsdelikten einen Anspruch auf
Prozessbegleitung haben, muss eine kindgerechte Prozessbegleitung sicher –
gestellt und – diese Maßnahme flankierend – der Opferstatus durch Zeug_innen –
schaft anerkannt werden.
−Problem der Vernachlässigung wahrnehmen
Insbesondere im Zusammenhang mit dem Thema
Vernachlässigung besteht ein eklatanter Mangel an validen Daten. Im Hinblick auf
eine Sensibilisierung der Gesellschaft bzw. von Berufsgruppen, die mit Kindern ar –
beiten und daher in der bevorzugten Position sind, Zeichen der Vernachlässigung
erkennen zu können, bedarf es daher zunächst einer umfassenden Datenerhebung
bzw. einer Detaillierung bereits erhobener Daten. So wäre es beispielsweise hilf –
reich, wenn innerhalb der jährlichen Kinder- und Jugendhilfestatistik die Ursachen
für die erfolgten Interventionen der Kinder- und Jugendhilfe erkennbar wären.
Bewusstseinsbildung kann dann über die verschiedenen Formate der Elternbildung
erfolgen oder auch über öffentliches Campaigning .
−Kinderschutzkonzepte und Einrichtung der „Kinderanwaltlichen Vertrauensperso –
nen“ ausbauen
Um ein gewaltfreies Heranwachsen von Kindern in
Institutionen zu gewährleisten, müssen in allen öffentlichen Einrichtungen sexual –
pädagogische und gewaltpräventive Konzepte etabliert werden. Im Fall der Fremd –
unterbringung sind Kinder und Jugendliche außerdem über Gründe und Dauer der
außerfamiliären Betreuung zu informieren und in die Entscheidung über die Wahl
der Betreuungsform einzubinden. Außerdem bedarf es eines niederschwelligen
Zugangs zum Beratungssystem, sodass im Anlassfall unbürokratisch auf Unter –
stützung zurückgegriffen werden kann. Bevorzugt kann dies durch die Implemen –
tierung von kinderanwaltlichen Vertrauenspersonen erreicht werden, für deren
Arbeiten allerdings gesetzliche Rahmenbedingungen geschaffen und entsprechen –
de Ressourcen bereitgestellt werden müssen. Der regelmäßige Kontakt zu Mit –
arbeiter_innen der Kinder- und Jugendanwaltschaften, die als externe Anlaufstel –
len fungieren und regelmäßig in den Einrichtungen zu Besuch sind, um Vertrauen
aufzubauen und sich ein Bild von der Lage vor Ort zu machen, ermutigt Kinder und
Jugendliche, die Gewalt oder Vernachlässigung erfahren, sich mitzuteilen und Hilfe
in Anspruch zu nehmen.
−Reformierung des Schulsystems
Von einer Reformierung des Schulsystems ist übli –
cherweise dann die Rede, wenn österreichische Schüler_innen im internationalen
Vergleich nicht die erwünschten Ergebnisse erzielen. Kaum thematisiert werden
dagegen die vielfältigen Erscheinungsformen von psychischer und struktureller
Gewalt, denen Kinder und Jugendliche im Bildungskontext tagtäglich ausgesetzt
sind und die eine Neuorientierung des Schulsystems unabdingbar machen. Neben
effektiven Kontrollmöglichkeiten, Maßnahmen, um der Willkür von Lehrpersonen
Einhalt zu gebieten, und einer Verbesserung der Rechtsstellung von Kindern und
Eltern ist vor allem ein Richtungswechsel weg von einem Disziplinieren, Abprüfen
und Abstrafen hin zu einem Fördern und Coachen vorzunehmen, zu einer Feed –
backkultur also, wo auch Schüler_innen das Recht und die Möglichkeit haben,
Lehrkräfte auf respektvolle Art und Weise in ihrer Arbeit zu beurteilen. Dies ist
umso mehr von Bedeutung, als man davon ausgehen muss, dass eine große Zahl
von Kindern und Jugendlichen mit familiären Problemen zu kämpfen hat und die
Schule daher ein Ort sein soll, wo sie professionell begleitet und unterstützt, nicht
aber zusätzlich belastet und frustriert werden sollen.
7
16_04 / Gewalt und Vernachlässigung in allen Gesellschaftsbereichen entgegenwirken16_04 .3.2 Erwartete Wirkungsweise
Die erwartete Wirkungsweise des vorgeschlagenen
Maßnahmenbündels besteht darin, dass einerseits die Anzahl der De-facto- Über –
griffe deutlich reduziert und andererseits mehr Sensibilität und schließlich ein
gewaltfreies Klima für Heranwachsende geschaffen wird. Durch die Unterstützung
von Eltern, die mit den Lebensumständen oder ihrer Erziehungsverantwortung
überfordert sind, ist zu erwarten, dass weniger Kinder in der Familie Gewalt er –
leben. Optimierungsmaßnahmen im Bereich der Fremdunterbringung sollen auch
für jene Kinder ein sicheres und liebevolles Ambiente schaffen, die nicht in der
eigenen Familie verbleiben können. Die Arbeit von Vertrauenspersonen erhöht die
Möglichkeit von Partizipation und verspricht eine gewisse Sicherheit, dass gege –
benenfalls auftretende Missstände rasch erkannt und beseitigt werden können. Die
Maßnahmen der Bewusstseinsbildung schließlich sollen bewirken, dass Eltern sich
aktiv mit ihren eigenen Erwartungshaltungen und Verhaltensweisen auseinander –
setzen, sich auf diese Weise persönlich weiterentwickeln und einen wertschätzen –
den konstruktiven Umgang mit Eltern-Kind-Konflikten einüben.
16_04 .3.3 Bisherige Erfahrungen mit dieser
Option oder ähnlichen Optionen
Der Rückgang von physischer Gewalt an Kindern zeigt
die Wirksamkeit der angesprochenen bereits existierenden Maßnahmen. Die neu
vorgeschlagenen Maßnahmen gehen demgegenüber auf die langjährige Erfahrung
von Expert_innen zurück und haben sich zum Teil bereits als sehr erfolgreich er –
wiesen.
16_04 .3.4 Zeithorizont der Wirksamkeit
Die Option mit ihren Maßnahmen wirkt
−kurzfristig – insofern Zustände der Gewalt, Vernachlässigung oder akuten
Gefährdung sofort unterbrochen und Schäden an Psyche, Körper und Leben ver –
mieden werden können;
−mittelfristig – insofern Eltern und Erzieher_innen Hilfe geboten wird, wie sie die
eigene Überforderung zum Wohl der Kinder überwinden können;
−langfristig – insofern eine intensivierte Bewusstseinsbildung innerhalb der
Gesellschaft als Ganzer, aber auch innerhalb kleinerer Systeme langfristig die
einzige Möglichkeit ist, ein Umfeld zu schaffen, in dem alle Kinder gewaltfrei und
geliebt heranwachsen können.
16_04 .3.5 Vergleich mit anderen Optionen,
mit denen das Ziel erreicht werden kann
Die größte inhaltliche Nähe besteht zwischen Option
16.04 und Option 16.01, die auf den umfassenden Schutz vulnerabler Gruppen
abzielt. Option 16.04 richtet die Aufmerksamkeit hierbei explizit auf Kinder und
Jugendliche.
16_04.3.6 Interaktionen mit anderen Optionen
Interaktionen bestehen mit sämtlichen anderen Optio –
nen im Kontext von SDG 16, aber auch von SDG 4, 5 und 10. Insbesondere bildet
Option 16.04 die Basis für alle weiteren Optionen, die sich explizit der Lage von
Kindern und Jugendlichen widmen.
8
Optionen und MaßnahmenLiteratur
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Menschenrechte, Bd. 37 ). Wien:
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916_04.3.7 Offene Fragestellungen
Näher untersucht werden muss insbesondere das Pro –
blem der Vernachlässigung von Kindern. Einerseits lässt sich das genaue Ausmaß
dieses Problems aufgrund der mangelhaften Studienlage derzeit nicht bestimmen,
andererseits wäre es an der Zeit, Vernachlässigung auch in der Forschung klar
als Form der Gewalt wahrzunehmen. Zudem sind weitere Studien zum Problem
der Gewaltzeug_innenschaft durch Kinder vonnöten. Mögliche Forschungsfragen
wären außerdem die Zugänglichkeit von Gewaltschutzmaßnahmen aus Sicht der
Kinder – und zwar im Kontext von Familie und Institutionen – sowie die Frage,
wie einheitliche Gewaltschutzstandards in einem föderalen System gewährleistet
werden können. Zu ergründen wären ebenso Bedeutung und Verantwortung der
verschiedenen Einrichtungen, die mit Kindern arbeiten (Unterbringung, Schule,
Freizeiteinrichtungen, Sport etc.), für die Entwicklung und Umsetzung von Gewalt –
schutzkonzepten. Desiderate der Forschung bestehen schließlich im Hinblick auf
das Stadt-Land-Gefälle im Zugang zu Gewaltschutzangeboten, die Weiterentwick –
lung der Kinder- und Jugendhilfestatistik, sowie – ganz aktuell – die Auswirkungen
von Covid-19 auf die Lebenssituation vom Kindern und Jugendlichen bzw. das

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